von Antonia Schmoldt (Psychologin M.Sc.)
Einleitung
In einer globalisierten Gesellschaft wachsen immer mehr Kinder mit mehreren Sprachen auf. Für viele ist es Alltag, zu Hause in einer anderen Sprache zu sprechen als im Kindergarten, auf dem Spielplatz oder in der Schule. Mehrsprachigkeit gilt dabei oft als Kompetenz – und tatsächlich zeigen viele Studien, dass mehrsprachig aufwachsende Kinder kognitive und kommunikative Vorteile entwickeln können (Bialystok, 2001).
Doch Mehrsprachigkeit bringt nicht nur Chancen, sondern auch Herausforderungen mit sich. Besonders im frühen Kindesalter kann das Nebeneinander unterschiedlicher Sprachen, kultureller Codes und sozialer Erwartungen zu Verunsicherung, inneren Konflikten oder Überforderung führen – insbesondere, wenn Kinder dabei wenig begleitet werden. Dieser Artikel beleuchtet das Spannungsfeld, in dem sich mehrsprachig aufwachsende Kinder bewegen, und zeigt auf, wie pädagogische Fachkräfte unterstützend handeln können.
Sprachliche Identität zwischen zwei (oder mehr) Welten
Sprache ist weit mehr als ein Kommunikationsmittel – sie ist ein identitätsstiftendes Element. Kinder lernen über Sprache, wer sie sind, wie die Welt funktioniert und welchen Platz sie darin einnehmen. Wenn sie zu Hause eine andere Sprache sprechen als im öffentlichen Raum, stellt sich für viele früh die Frage: „Welche Sprache gehört zu mir?“
Gerade in Situationen, in denen eine Sprache sozial weniger anerkannt ist oder als „nicht dazugehörig“ empfunden wird, können sich Kinder zwischen ihren Sprachen verloren fühlen. Sie erleben, dass ihre Familiensprache im öffentlichen Kontext nicht verstanden oder sogar abgewertet wird – und entwickeln nicht selten ein ambivalentes Verhältnis zu ihr (Gogolin, 1994).
Die Folge kann ein sprachlicher Rückzug, ein Schweigen in einer der Sprachen oder das bewusste Vermeiden des Sprechens im sozialen Raum sein. Manche Kinder sprechen dann z. B. nur noch Deutsch in der Kita, selbst wenn sie sich in der Familiensprache sicherer fühlen – aus dem Bedürfnis heraus, nicht aufzufallen oder "normal" zu sein (Yagmurlu & Mishina-Matsuzawa, 2010).
Kognitive Entwicklung und potenzielle Überforderung
Mehrsprachigkeit bedeutet auch, dass Kinder mehrere Sprachsysteme parallel verarbeiten, unterscheiden und anwenden müssen. Das gelingt in der Regel gut – wenn die Sprachentwicklung stabil begleitet wird. Fehlt diese Begleitung, kann es zur sogenannten semilingualen Entwicklung kommen: Das Kind beherrscht keine der Sprachen altersgemäß, weil keine ausreichende sprachliche Tiefe in einer der Sprachen aufgebaut werden konnte (Cummins, 2000).
Ein weiteres Risiko besteht, wenn Kinder als Dolmetscher:innen für ihre Familien fungieren müssen – etwa bei Behörden oder medizinischen Terminen. Diese Rollenüberforderung birgt das Risiko, dass Sprache nicht mehr als persönlicher Ausdruck, sondern als Mittel zur familiären Pflicht erlebt wird (Witt, 2020). Dies kann langfristig die sprachliche und emotionale Entwicklung beeinträchtigen.
Kultur, Zugehörigkeit und die innere Landkarte
Sprachliche Mehrfachzugehörigkeit ist meist auch mit kultureller Vielfalt verknüpft. Kinder erleben unterschiedliche Werte, Rituale, Erwartungen und Umgangsformen – abhängig davon, ob sie sich in der Familie, in der Kita oder im Freundeskreis bewegen. Dies kann zu einem inneren Spannungsfeld führen, besonders dann, wenn kulturelle Botschaften widersprüchlich oder nicht integrierbar erscheinen (Thomas, 2006).
Wenn Kinder kulturell zwischen den Stühlen sitzen, kann das zu Identitätskonflikten führen: „Bin ich deutsch oder syrisch?“ – „Warum spricht Mama nicht so wie die anderen Mamas?“ – „Welche Sprache darf ich in der Schule benutzen?“ Die Unsicherheit darüber, wo man dazugehört, ist eng mit der Frage verbunden, wer man ist.
Was pädagogische Fachkräfte tun können
Mehrsprachigkeit sollte in pädagogischen Kontexten nicht als Defizit, sondern als Ressource verstanden werden. Dazu gehört ein bewusster Umgang mit Sprache und eine wertschätzende Haltung gegenüber unterschiedlichen kulturellen und sprachlichen Hintergründen.
Konkrete Handlungsansätze sind:
- Mehrsprachige Materialien und Bücher, die Familiensprachen sichtbar machen
- Anerkennung der Herkunftssprache in Gesprächen mit Eltern und Kindern
- Keine „Sprachenverbote“ – stattdessen gezielte Sprachförderung ohne Abwertung der Erstsprache
- Raum für kulturelle Ausdrucksformen (z. B. Lieder, Feste, Geschichten)
- Elternarbeit auf Augenhöhe, die die Bedeutung der Familiensprache erklärt und unterstützt
- Reflexion über die eigene Sprachbiografie und mögliche implizite Vorurteile im Team
Vor allem jedoch brauchen Kinder Sicherheit: Die Gewissheit, dass sie mit all ihren Sprachen und kulturellen Erfahrungen dazugehören – ohne sich entscheiden zu müssen.
Fazit
Zwischen zwei Sprachen zu leben, kann bereichernd, aber auch belastend sein. Mehrsprachig aufwachsende Kinder befinden sich oft in einem sprachlich-kulturellen Spannungsfeld, das Identität, Zugehörigkeit und Entwicklung betrifft. Es liegt an den Bezugspersonen – pädagogisch wie familiär – dieses Spannungsfeld nicht zu problematisieren, sondern zu begleiten. Dann kann Mehrsprachigkeit zu dem werden, was sie sein sollte: Eine Stärke, auf der sich ein stabiles Selbstbild entwickeln kann.
Literaturverzeichnis
Bialystok, E. (2001). Bilingualism in development: Language, literacy, and cognition. Cambridge University Press.
Cummins, J. (2000). Language, power and pedagogy: Bilingual children in the crossfire. Multilingual Matters.
Gogolin, I. (1994). Der monolinguale Habitus der multilingualen Schule. Waxmann.
Thomas, A. (2006). Interkulturelle Kompetenz: Grundlagen, Probleme und Konzepte. Hogrefe.
Witt, A. (2020). Dolmetschende Kinder – Herausforderungen und Risiken. In B. Egloff & H. Meyer (Hrsg.), Kindheiten im Wandel (S. 75–88). Springer VS.
Yagmurlu, B., & Mishina-Matsuzawa, K. (2010). Relations among parenting practices, culture, and children's theory of mind development. Early Child Development and Care, 180(9), 1223–1238.
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