Von kleinen Schritten zu großen Zielen: Wie Kinder Selbstständigkeit lernen und entfalten
Juliane Lohse, 03. Januar. 2025
Moderne Erziehung kann sich nicht ohne die Förderung von Selbstständigkeit entwickeln, da dieses Ziel eine zentrale Rolle in der pädagogischen Tradition spielt. In aktuellen Diskussionen über Kindheit, Erziehung und Bildung wird Selbstständigkeit erneut als wichtiges Erziehungsziel hervorgehoben. Allerdings wird der Begriff häufig nicht klar definiert, was zu Missverständnissen führen kann, da er je nach Kontext unterschiedlich interpretiert wird.
Heute wird Selbstständigkeit in der Pädagogik in zweifacher Weise betrachtet. Einerseits ist sie das Hauptziel der Erziehung: Kinder und Jugendliche sollen aus ihrer Unmündigkeit herausgeführt und zu einem selbstbestimmten Leben befähigt werden. Andererseits wird Selbstständigkeit auch als Voraussetzung für Erziehung gesehen.
Erziehung kann nicht einfach Selbstständigkeit „erschaffen“, sondern sie setzt die Fähigkeit zur Selbsttätigkeit der Kinder voraus. Erziehung bedeutet also nicht nur, dass Erwachsene Einfluss nehmen, sondern auch, dass Kinder und Jugendliche aktiv an ihrer eigenen Entwicklung mitwirken und „sich selbst erziehen“ (Drieschner, 2007).
Die sichere Bindung des Kindes an eine Hauptbezugsperson i.d.R. die Eltern, bildet die unverzichtbare Grundlage für die Entwicklung hin zur Selbständigkeit (Butzmann, 2021). Eltern können die Entwicklung eines sicheren Bindungsstils darin unterstützen, die Signale ihres Kindes feinfühlig wahrzunehmen, richtig zu verstehen und schnell darauf zu reagieren (Ainsworth et al., 1974). Es geht vor allem um die Bindungsqualität, d.h. das Gefühl der Wärme und Sicherheit, welches die Bezugspersonen ihrem Säugling vermitteln (Lohaus & Vierhaus, 2019). Ein solches Verhalten der Eltern gibt dem Kind die Sicherheit, die Umgebung frei zu erkunden, ohne sich bedroht zu fühlen. Es entwickelt Vertrauen in die Welt und kann sich schrittweise von den Eltern lösen.
Gleichzeitig bleiben die Bezugspersonen ein sicherer Hafen, zu dem das Kind jederzeit zurückkehren kann. Ein sicherer Bindungsstil zeigt sich besonders deutlich, wenn Kinder die Bezugsperson in ihrer Abwesenheit vermissen und Trost bevorzugt bei ihr suchen. Sobald die Bezugsperson zurückkehrt, drücken Kinder mit sicherer Bindung ihre Freude über das Wiederkehren aus.
Zwischen dem 3. und 8. Lebensmonat entwickeln Kinder ein erstes Verständnis dafür, dass sie mit ihrem Verhalten etwas bewirken können (Wirksamkeit) und dass Handlungen bestimmte Ziele verfolgen können (Intentionalität) (Hannover & Greve, 2018). Zum Beispiel erkennen sie, dass sie durch Greifen ein Spielzeug bewegen oder durch Weinen die Aufmerksamkeit der Bezugsperson erhalten. Dabei erfahren sie, dass sie selbst die Ursache für die eigenen Handlungen sind, jedoch nicht für die Handlungen anderer Personen (Hannover & Greve, 2018).
Nachdem Kinder ein erstes Verständnis von Wirksamkeit und Intentionalität entwickelt haben, erweitern sie ihre Fähigkeiten u.a. durch das Beobachten und Nachahmen von Handlungen anderer (Lohaus & Vierhaus, 2019). Wenn Kinder ihren Eltern beim Tisch abräumen zuschauen, lernen sie nicht nur die einzelnen Schritte, sondern auch, wie z.B. alltägliche Aufgaben im Haushalt ausgeführt werden. Der Lernprozess wird verstärkt, indem Kinder eine Ähnlichkeit zwischen sich und dem Modell, in diesem Fall die Eltern, wahrnehmen (Lohaus & Vierhaus, 2019). Dies fördert nicht nur ihre Eigenständigkeit, sondern auch das Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten. Die Aufgaben, die Kinder übernehmen, sollten jedoch immer ihrem Alter entsprechen. So lernen sie, selbstständig zu werden, ohne sich überfordert zu fühlen. Aufgaben, welche sie bereits bewältigen können, sollten nicht abgenommen werden, da dies die Entwicklung der Selbstständigkeit hemmt (Selbstständigkeit Bei Kindern Fördern, o. D.).
Auch das Spielen ist ein grundlegendes Bedürfnis, das Kindern hilft, neue Fähigkeiten zu erlernen und die Welt zu verstehen (Butzmann, 2021). Es fördert nicht nur die Entwicklung ihrer Sprache, grobmotorischer Fähigkeiten und Koordination, sondern ermöglich ihnen auch in Kontakt mit Gleichaltrigen zu kommen. Sie lernen dadurch Kooperationsbereitschaft und haben die Möglichkeit verschiedene soziale Rollen zu entdecken (Siegler et al., 2021). Dies trägt positiv zur Entwicklung der Selbstständigkeit bei.
Ab etwa dem 2. Lebensjahr sind Kinder in der Lage, sich im Spiegel zu erkennen, was als wichtiger Meilenstein in der Selbstentwicklung gilt. Sie beginnen, ihren eigenen Namen und Personalpronomen zu verwenden, wodurch sich ihr Selbstbild zunehmend klarer formt (Lohaus & Vierhaus, 2019). Dieses Bild – das Selbstkonzept – beschreibt, was sie über ihre eigenen Eigenschaften, Fähigkeiten und Vorlieben wissen. Doch nicht nur das Wissen über sich selbst ist entscheidend, sondern auch, wie sie sich selbst fühlen und bewerten. Hier kommt der Selbstwert ins Spiel, der eng mit der Art und Weise verbunden ist, wie Kinder ihre eigenen Stärken und Schwächen einschätzen. Mit dem Beginn der Schule wird der Selbstwert eines Kindes zunehmend von den eigenen schulischen Leistungen beeinflusst.
Im frühen Kindesalter entwickeln Kinder die Fähigkeit, Handlungsziele zu verfolgen und ihr Selbst durch die Erreichung dieser Ziele zu erkunden. Motivation entsteht in der Interaktion mit Bezugspersonen und umfasst sowohl bewusste als auch unbewusste Motive. Kinder lernen, zwischen Aufgabenanforderungen und eigener Leistung zu unterscheiden. Sie gestalten ihre Entwicklung aktiv durch Selektion, also die Auswahl von Umwelten und Situationen, die ihren Bedürfnissen und Fähigkeiten entsprechen, sowie durch Manipulation, bei der sie direkt Einfluss auf ihre Umwelt nehmen, um sie nach ihren Vorstellungen zu gestalten (Haase & Heckhausen, 2018). Diese Prozesse stärken das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und die fördern die Fähigkeit, eigenständig Entscheidungen zu treffen und Verantwortung zu übernehmen.
Während der Adoleszenz wird die Anerkennung durch Gleichaltrige immer wichtiger (Lohaus & Vierhaus, 2019). Ein entscheidender Faktor für die Entwicklung des Selbstwerts ist dabei, wie gut die Erwartungen des sozialen Umfelds mit den individuellen Eigenschaften und dem Temperament des/der Jugendlichen übereinstimmen. Wenn das Umfeld die Bedürfnisse und Eigenschaften des Kindes berücksichtigt, fördert dies nicht nur seine emotionale Entwicklung, sondern stärkt auch das Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen. Kinder und Jugendliche, deren Persönlichkeit von den wichtigen Bezugspersonen verstanden und akzeptiert werden, fühlen sich sicherer und haben ein positiveres Bild von sich selbst. Eine positive
Selbstwahrnehmung und das gestärkte Selbstvertrauen bilden die Grundlage dafür, dass Kinder und Jugendliche zunehmend selbstständig handeln, Entscheidungen treffen und Verantwortung übernehmen können.
Auch das Autonomiebestreben der Jugendlichen rückt in der Adoleszenz stark in den Fokus und führt oft zu Konflikten zwischen diesen und ihren Eltern. Sie suchen ihre eigenen sozialen Beziehungen und deidealisieren ihre Eltern. Forschungen zeigen, dass es hilfreich ist, wenn Eltern auch in der Adoleszenz einen autoritativen Erziehungsstil beibehalten, also eine Mischung aus Unterstützung und Kontrolle. Allerdings sollte dieser Stil an die Bedürfnisse der/des Jugendlichen angepasst werden. Damit Eltern gut informiert bleiben und ihre Kinder in ihrer Entwicklung begleiten können, ist es wichtig, die Eltern-Kind-Beziehung auf Augenhöhe zu gestalten. Das bedeutet, dass Eltern weiterhin Wärme und Unterstützung bieten, gleichzeitig aber auch gemeinsam mit ihren Kindern Regeln und Grenzen für ihr Verhalten aushandeln (Lohaus & Vierhaus, 2019).
Zusammenfassend zeigt sich, dass eine Balance aus liebevoller Unterstützung, klaren Regeln und der gezielten Förderung von Eigeninitiative entscheidend dazu beiträgt, die Selbstständigkeit von Kindern zu stärken und ihre Entwicklung zu selbstbewussten und verantwortungsvollen Persönlichkeiten zu fördern.
Literatur:
Ainsworth, M. D. S., Bell, S. M., & Stayton, D. J. (1974). Infant-mother attachment and social development: Socialization as a product of reciprocal responsiveness to signals. In M. P. M. Richards (Hrsg.), The integration of a child into a social world (S. 97–119). London: Cambridge University Press.
Butzmann, E. (2021). Entwicklung der kindlichen Selbstständigkeit. Erzieherin. Verfügbar unter: https://www.erzieherin.de/entwicklung-der-kindlichen- selbststaendigkeit.html
Drieschner, E. (2007). Erziehungsziel „Selbstständigkeit“: Grundlagen, Theorien und Probleme eines Leitbildes der Pädagogik. Berlin: Springer-Verlag.
Haase, C. M. & Heckhausen, J. (2018). Motivation. In W. Schneider & U. Lindenberger (Hrsg.). Entwicklungspsychologie(8. überarb. Aufl., S. 491-511). Weinheim: Beltz.
Hannover, B. & Greve, W. (2018). Selbst und Persönlichkeit. In W. Schneider & U. Lindenberger (Hrsg.). Entwicklungspsychologie (8. überarb. Aufl., S. 559-577).
Weinheim: Beltz.
Lohaus, A. & Vierhaus, M. (2019). Entwicklungspsychologie des Kindes- und Jugendalters für Bachelor. Berlin: Springer-Verlag.
Selbstständigkeit bei Kindern fördern. (o. D.). https://www.schuelerhilfe.de/unternehmen/magazin/artikel/selbststaendigkeit-bei- kindern-foerdern/#wann-werden-kinder-selbststaendig
Siegler, R., Saffran, J. R., Gershoff, E. T. & Eisenberg, N. (2021). Entwicklungspsychologie im Kindes- und Jugendalter. In Springer eBooks. https://doi.org/10.1007/978-3-662-62772-3