von Lisa Seidel (Psychologin M.Sc. & Autorin)
Einleitung
Elternschaft ist für viele ein Herzensprojekt, getragen von dem Wunsch, das Beste für die eigenen Kinder zu tun. Dennoch können sich in Familien ungesunde und sogar missbräuchliche Dynamiken entwickeln, oft unbemerkt und manchmal trotz bester Absichten. Diese Dynamiken entstehen nicht nur durch extreme oder offensichtliche Gewalt, sondern auch durch subtile, wiederkehrende Verhaltensmuster, die das emotionale Wohlbefinden eines Kindes beeinträchtigen.
Der Blick auf diese Muster fällt schwer, weil er auch unsere eigene Kindheit berührt. Doch gerade diese Verbindung bietet eine Chance: Wer versteht, wie die eigene Erziehung uns geprägt hat, kann bewusst andere Wege für die nächste Generation wählen.
Was sind missbräuchliche Eltern-Kind-Dynamiken
Missbräuchliche Dynamiken umfassen mehr als körperliche Gewalt. Sie können emotional, verbal, psychologisch oder verhaltensbezogen sein und reichen von ständigen Abwertungen über unberechenbare Stimmungsschwankungen bis hin zu übermäßiger Kontrolle oder Vernachlässigung (Spinazzola et al., 2014).
Typische Muster sind beispielsweise emotionaler Missbrauch, also das wiederholte Beschämen, Drohen oder Schuldzuweisen (Taillieu et al., 2016). Auch Parentifizierung, bei der das Kind dauerhaft die Rolle des Erwachsenen übernimmt, gehört dazu. Gaslighting, bei dem Gefühle oder Wahrnehmungen des Kindes immer wieder infrage gestellt werden, kann ebenso schädlich wirken. Manche Eltern zeigen auch konditionierte Zuwendung, bei der Liebe an Leistung oder Gehorsam geknüpft wird.
Diese Verhaltensweisen sind nicht immer bewusst böswillig. Häufig wiederholen Eltern unbewusst, was sie selbst erlebt haben. In der Forschung wird dies als intergenerationale Weitergabe bezeichnet (Schofield et al., 2013).
Die Rolle der eigenen Erziehung
Unsere Vorstellung von normaler Elternschaft speist sich aus unseren eigenen Kindheitserfahrungen. Forschung zeigt, dass Menschen, die in missbräuchlichen oder stark kontrollierenden Umfeldern aufwuchsen, ein erhöhtes Risiko haben, ähnliche Muster an ihre Kinder weiterzugeben, wenn sie diese nicht bewusst hinterfragen (Madigan et al., 2019).
Gleichzeitig gibt es den sogenannten Breaking-the-Cycle-Effekt. Eltern, die reflektieren, eigene Verletzungen anerkennen und sich Unterstützung holen, können die Weitergabe schädlicher Muster unterbrechen (Berlin et al., 2011).
Wie Eltern ungesunde Muster bei sich selbst erkennen können
Selbstreflexion ist der Schlüssel. Folgende Fragen können helfen:
Fühle ich mich schnell überfordert oder wütend, wenn mein Kind widerspricht Korrigiere ich mein Kind häufiger, als ich es ermutige Koppelt sich meine Zuwendung an Leistung oder an sogenanntes gutes Benehmen Lasse ich Raum für die Gefühle meines Kindes, auch wenn sie unbequem sind Verliere ich mich in Kontrolle, weil ich Angst vor Chaos oder Kontrollverlust habe
Das Erkennen solcher Muster kann schmerzhaft sein. Es bedeutet nicht, ein schlechter Elternteil zu sein, sondern Verantwortung zu übernehmen, um Veränderungen einzuleiten.
Warum Prävention so entscheidend ist
Missbräuchliche Dynamiken hinterlassen Spuren im kindlichen Gehirn, in der Stressregulation und im Selbstwertgefühl (Teicher & Samson, 2016). Kinder, die wiederholt emotional abgewertet oder kontrolliert werden, entwickeln häufiger Angststörungen, Depressionen oder Bindungsschwierigkeiten im Erwachsenenalter (Norman et al., 2012).
Prävention beginnt, bevor destruktive Muster fest verankert sind. Sie umfasst Psychoedukation, also Wissen über kindliche Entwicklung und emotionale Bedürfnisse. Sie erfordert die Selbstfürsorge der Eltern, um Stress abzubauen und gesunde Grenzen zu wahren. Sie lebt von einem stabilen sozialen Netzwerk, in dem Austausch mit anderen Eltern und Fachpersonen möglich ist. Und sie kann durch therapeutische Unterstützung gestärkt werden, etwa in Form von Elternberatung oder Traumatherapie.
Aufklärung als Weg zur Veränderung
Aufklärung bedeutet, Eltern nicht zu verurteilen, sondern ihnen Wissen, Perspektiven und Werkzeuge zu geben. Dazu gehört auch, Mythen über Erziehung zu hinterfragen. Ein Beispiel ist die Annahme, dass Strenge den Charakter stärkt. Studien belegen jedoch, dass autoritative Erziehung, die Wärme und klare Grenzen kombiniert, zu den besten Entwicklungsverläufen führt (Baumrind, 2013).
Unterstützende Schritte für Eltern
Bildung durch Bücher, Podcasts oder Elternkurse zu bindungsorientierter Erziehung Reflexion eigener Kindheitserfahrungen und ihrer Wirkung Rückmeldung von Partnerinnen, Partnern, Freunden oder Fachkräften einholen Selbstmitgefühl entwickeln und Fehler als Lernmomente sehen Professionelle Hilfe suchen, wenn Konflikte oder Stress anhalten
Fazit
Missbräuchliche Eltern-Kind-Dynamiken zu erkennen, erfordert Mut und Ehrlichkeit, vor allem sich selbst gegenüber. Wer diesen Schritt geht, kann nicht nur die Beziehung zum eigenen Kind stärken, sondern auch generationsübergreifende Verletzungen heilen. Jede bewusste Veränderung ist ein Beitrag dazu, dass Fürsorge nicht weh tut, sondern trägt.
Literatur
Baumrind, D. (2013). Authoritative parenting revisited: History and current status. Developmental Psychology, 49(3), 405–421. https://doi.org/10.1037/a0027721
Berlin, L. J., Appleyard, K., & Dodge, K. A. (2011). Intergenerational continuity in child maltreatment: Mediating mechanisms and implications for prevention. Child Development, 82(1), 162–176. https://doi.org/10.1111/j.1467-8624.2010.01547.x
Madigan, S., Cyr, C., Eirich, R., Fearon, R. M. P., Ly, A., Rash, C., & Alink, L. R. A. (2019). Testing the cycle of maltreatment hypothesis: Meta-analytic evidence of the intergenerational transmission of child maltreatment. Development and Psychopathology, 31(1), 23–51. https://doi.org/10.1017/S0954579418001700
Norman, R. E., Byambaa, M., De, R., Butchart, A., Scott, J., & Vos, T. (2012). The long-term health consequences of child physical abuse, emotional abuse, and neglect: A systematic review and meta-analysis. PLoS Medicine, 9(11), e1001349. https://doi.org/10.1371/journal.pmed.1001349
Schofield, T. J., Lee, R. D., & Merrick, M. T. (2013). Safe, stable, nurturing relationships as a moderator of intergenerational continuity of child maltreatment: A meta-analysis. Journal of Adolescent Health, 53(4), S32–S38. https://doi.org/10.1016/j.jadohealth.2013.05.004
Spinazzola, J., Hodgdon, H., Liang, L.-J., Ford, J. D., Layne, C. M., Pynoos, R., ... & Kisiel, C. (2014). Unseen wounds: The contribution of psychological maltreatment to child and adolescent mental health and risk outcomes. Psychological Trauma: Theory, Research, Practice, and Policy, 6(S1), S18–S28. https://doi.org/10.1037/a0037766
Taillieu, T. L., Brownridge, D. A., Sareen, J., & Afifi, T. O. (2016). Childhood emotional maltreatment and mental disorders: Results from a nationally representative adult sample from the United States. Child Abuse & Neglect, 59, 1–12. https://doi.org/10.1016/j.chiabu.2016.07.005
Teicher, M. H., & Samson, J. A. (2016). Annual research review: Enduring neurobiological effects of childhood abuse and neglect. Journal of Child Psychology and Psychiatry, 57(3), 241–266. https://doi.org/10.1111/jcpp.12507