Social Media als Einstieg in Suchtmechanismen?

Social Media als Einstieg in Suchtmechanismen?

von Lisa Seidel (Psychologin M.Sc. & Autorin)

In einer zunehmend digitalisierten Welt sind soziale Medien allgegenwärtig – sie informieren, verbinden und unterhalten. Doch was passiert, wenn aus gelegentlicher Nutzung eine psychische Abhängigkeit wird? Die Forschung zeigt: Social Media kann nicht nur das emotionale Wohlbefinden beeinflussen, sondern auch suchtähnliche Strukturen im Gehirn auslösen.

Das Belohnungssystem: Dopamin auf Knopfdruck

Social Media funktioniert nach dem Prinzip der intermittierenden Verstärkung: Ein Like, ein neuer Kommentar oder eine geteilte Story können das Belohnungssystem des Gehirns aktivieren. Dieser sogenannte „Dopamin-Kick“ sorgt kurzfristig für Glücksgefühle – ähnlich wie bei Substanzsüchten (Volkow et al., 2011).

Was als kleine Belohnung beginnt, kann sich schnell zu einem psychischen Bedürfnis entwickeln. Nutzer:innen checken ihre Geräte wiederholt, in der Hoffnung auf soziale Bestätigung. Die Plattformen sind so konzipiert, dass sie genau dieses Verhalten fördern: durch endloses Scrollen („Infinite Scroll“), Push-Benachrichtigungen und Algorithmen, die emotional aufgeladene Inhalte priorisieren (Montag et al., 2019).

Toleranzentwicklung und Kontrollverlust

Wie bei klassischen Suchterkrankungen kann es auch bei Social-Media-Nutzung zu einer Toleranzentwicklung kommen. Die gleichen Inhalte und Reize reichen irgendwann nicht mehr aus, um die gewünschte Befriedigung zu erzeugen. Nutzer:innen verbringen zunehmend mehr Zeit online – oft unbewusst.

Studien zeigen, dass eine exzessive Nutzung sozialer Netzwerke mit erhöhtem Stressempfinden, innerer Unruhe und Konzentrationsproblemen einhergehen kann (Keles, McCrae & Grealish, 2020). Der Versuch, den Konsum zu reduzieren, führt häufig zu Entzugserscheinungen wie Reizbarkeit, Langeweile oder Angst.

Der schleichende Übergang zur Abhängigkeit

Verhaltenssüchte wie die Social-Media-Sucht sind bislang nicht in allen Klassifikationssystemen klar als Diagnose definiert. Dennoch erkennen immer mehr Psycholog:innen die klinische Relevanz. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat in der ICD-11 bereits die Gaming Disorder aufgenommen – ein Hinweis darauf, dass auch andere digitale Abhängigkeiten zunehmend in den Blick der Gesundheitsversorgung rücken (WHO, 2022).

Ein besonders kritischer Punkt ist der schleichende Übergang: Was als harmlose Ablenkung oder Kommunikationsmittel beginnt, kann sich – meist unbemerkt – zu einem dominanten Verhalten entwickeln. Betroffene priorisieren den Medienkonsum zunehmend über soziale Kontakte, Schule, Arbeit oder Schlaf.

Was hilft? Prävention, Aufklärung und emotionale Alternativen

Vorbeugung beginnt bei der Aufklärung: Kinder, Jugendliche und auch Erwachsene sollten lernen, wie digitale Plattformen funktionieren – und wie sie das Nutzerverhalten beeinflussen. Medienkompetenz, Achtsamkeit und bewusste Offline-Zeiten sind wichtige Schutzfaktoren.

Psychologische Präventionsarbeit kann helfen, emotionale Bedürfnisse zu erkennen und alternative Wege zu finden, mit Langeweile, Unsicherheit oder Stress umzugehen. Denn letztlich ist nicht das Medium selbst gefährlich – sondern die emotionale Funktion, die es erfüllt.

Literaturverzeichnis

Keles, B., McCrae, N., & Grealish, A. (2020). A systematic review: The influence of social media on depression, anxiety and psychological distress in adolescents. International Journal of Adolescence and Youth, 25(1), 79–93. https://doi.org/10.1080/02673843.2019.1590851

Montag, C., Lachmann, B., Herrlich, M., & Zweig, K. (2019). Addictive features of social media/messenger platforms and freemium games against the background of psychological and economic theories. International Journal of Environmental Research and Public Health, 16(14), 2612. https://doi.org/10.3390/ijerph16142612

Volkow, N. D., Wang, G.-J., Fowler, J. S., Tomasi, D., & Telang, F. (2011). Addiction: Beyond dopamine reward circuitry. Proceedings of the National Academy of Sciences, 108(37), 15037–15042. https://doi.org/10.1073/pnas.1010654108

World Health Organization. (2022). International classification of diseases 11th revision (ICD-11). https://icd.who.int/

Bildquellen: istock.de

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