Kindliche Irritation als Warnsignal für gestörte Bindung
Einleitung
In einer zunehmend digitalisierten Welt gehört das Smartphone für viele Eltern zum Alltag wie der Schlüsselbund. Doch während E-Mails beantwortet, Nachrichten gelesen oder Social-Media-Feeds gescrollt werden, bleibt oft etwas auf der Strecke: die emotionale Präsenz gegenüber dem eigenen Kind. Neuere Studien zeigen, dass übermäßiger elterlicher Smartphonekonsum nicht nur zur Reizüberflutung bei Erwachsenen beiträgt, sondern auch signifikante Irritation und Stressreaktionen bei Kindern hervorrufen kann – mit langfristigen Folgen für Erziehung und Bindung (Radesky et al., 2014).
Smartphonekonsum im Familienalltag: Ein Überblick
Laut einer aktuellen Umfrage der DAK-Gesundheit (2023) verbringen Eltern in Deutschland im Durchschnitt über 3 Stunden täglich mit dem Smartphone – ein erheblicher Teil davon im Beisein ihrer Kinder. Besonders problematisch wird dies, wenn die Smartphone-Nutzung zur dauerhaften Ablenkung im Familienalltag führt. Der Begriff „Technoference“ beschreibt die Unterbrechung sozialer Interaktionen durch digitale Geräte (McDaniel & Radesky, 2018).
Elterliche Smartphone-Nutzung und Auswirkungen auf die Eltern-Kind-Interaktion
Die ständige Verfügbarkeit und Nutzung digitaler Medien führt zu einem Rückgang responsiver Erziehung. Eltern, die regelmäßig aufs Handy schauen, reagieren langsamer auf Signale ihres Kindes, sind emotional weniger zugänglich und häufiger gereizt (Kildare & Middlemiss, 2017). Diese Unterbrechungen stören die für Kinder wichtige emotionale Spiegelung – ein zentraler Bestandteil der frühen Bindungsentwicklung.
Ein prägendes Experiment von Radesky et al. (2014) zeigte, dass Kinder auf elterliche Inaktivität (z. B. durch Smartphone-Nutzung) mit Unruhe, Frustration und Rückzug reagieren. Je häufiger diese Situationen auftreten, desto mehr gewöhnen sich Kinder daran, keine konsistente Reaktion auf ihre Emotionen zu erhalten – ein Risikofaktor für spätere Verhaltensauffälligkeiten.
Irritation und Stressreaktionen bei Kindern
Kinder sind feinfühlige Beobachter. Bereits Babys zeigen Irritation, wenn Eltern durch das Handy „abwesend“ sind. Typische Reaktionen umfassen:
wiederholtes Rufen oder Weinen,
aggressives Verhalten (z. B. Spielsachen werfen),
Rückzug und verstärkte Selbstregulation.
Neurobiologisch betrachtet reagieren Kinder in solchen Situationen mit einer erhöhten Ausschüttung von Cortisol, dem körpereigenen Stresshormon (Gunnar & Donzella, 2002). Besonders problematisch ist, dass chronischer elterlicher Smartphonekonsum langfristig zu einem Gefühl der Unvorhersehbarkeit und Unsicherheit führen kann – mit Folgen für die Entwicklung von Urvertrauen und Stressverarbeitung.
Langfristige Folgen für Bindung und Verhalten
Studien zeigen einen Zusammenhang zwischen häufiger Technoference und erhöhtem oppositionellen Verhalten, Konzentrationsproblemen und erhöhter innerer Unruhe bei Kindern (McDaniel & Radesky, 2018). Vor allem die fehlende emotionale Ko-Regulation im Alltag kann die kindliche Emotionsregulation und Empathie negativ beeinflussen (Kochanska et al., 2010). Bindungstheoretisch bedeutet das: Kinder erleben ihre Eltern als unzuverlässig verfügbar – ein Kennzeichen unsicherer Bindung.
Empfehlungen für einen gesunden Umgang
Smartphone-freie Zonen etablieren: Mahlzeiten, Spielzeiten und Zubettgehzeiten sollten frei von digitalen Geräten bleiben.
Bewusste Aufmerksamkeit schenken: Eltern können üben, das Smartphone bewusst wegzulegen und die Interaktion mit dem Kind aktiv wahrzunehmen.
Vorbild sein: Kinder orientieren sich an den Mediengewohnheiten der Eltern – ein reflektierter Umgang wirkt präventiv.
Screen-Time reflektieren: Apps wie „Digital Wellbeing“ oder „Screen Time“ helfen dabei, den eigenen Konsum zu kontrollieren.
Fazit
Übermäßiger Smartphonekonsum unter Eltern ist kein individuelles Versagen, sondern ein Symptom unserer übervernetzten Gesellschaft. Doch gerade in der Erziehung zählt emotionale Präsenz. Kinder brauchen echte Aufmerksamkeit, um sich sicher, gesehen und verstanden zu fühlen. Die irritierten Reaktionen vieler Kinder sind nicht übertrieben – sie sind ein Aufruf zur Rückverbindung mit dem, was zählt: echter Beziehung. Wer sein Handy öfter beiseitelegt, stärkt nicht nur die Entwicklung seines Kindes, sondern auch die eigene psychische Gesundheit.
Literaturverzeichnis
DAK-Gesundheit. (2023). DAK Kinder- und Jugendreport: Eltern unter Druck.
Gunnar, M. R., & Donzella, B. (2002). Social regulation of the cortisol levels in early human development. Psychoneuroendocrinology, 27(1–2), 199–220.
Kildare, C. A., & Middlemiss, W. (2017). Impact of parents' mobile device use on parent–child interaction: A literature review. Computers in Human Behavior, 75, 579–593.
Kochanska, G., Murray, K., & Coy, K. C. (2010). Inhibitory control as a contributor to conscience in childhood: From toddler to early school age. Child Development, 72(2), 447–461.
McDaniel, B. T., & Radesky, J. S. (2018). Technoference: Parent distraction with technology and associations with child behavior problems. Child Development, 89(1), 100–109.
Radesky, J. S., Silverstein, M., Zuckerman, B., & Christakis, D. A. (2014). Infant self-regulation and early childhood media exposure. Pediatrics, 133(5), e1172–e1178.