Sinn im Alltag und in der Elternschaft

Sinn im Alltag und in der Elternschaft

von Lisa Seidel (Psychologin M.Sc. & Autorin)

Einleitung

Die Frage nach dem Sinn ist so alt wie die Menschheit selbst und wird dennoch in jeder Generation neu gestellt. In einer Zeit, in der Menschen zwischen beruflichen Verpflichtungen, gesellschaftlichen Erwartungen und privaten Herausforderungen balancieren, hat die Suche nach Sinn an Aktualität gewonnen. Besonders Eltern stehen heute vor einer Vielzahl von Aufgaben, die neben organisatorischen Anforderungen auch eine tiefe emotionale und psychologische Dimension haben. Wie kann man im Spannungsfeld von Care-Arbeit, Erwerbstätigkeit und Selbstfürsorge Sinn erleben? Welche Rolle spielt Elternschaft als Quelle von Bedeutung, und wie kann man auch im hektischen Alltag Sinn aktiv gestalten? Dieser Artikel geht diesen Fragen nach, verknüpft psychologische Theorien mit aktuellen Studien und zeigt praxisnahe Wege auf, wie Eltern mehr Sinn in ihrem Alltag finden können.

Sinn aus psychologischer Sicht

Sinn ist ein mehrdimensionales Konstrukt, das in der Psychologie vor allem durch Viktor Frankl (1946/2006) geprägt wurde. Frankl betonte, dass der Mensch in jeder Lebenslage nach Sinn strebt, selbst in Leid und Verlust. Sinn ist für ihn keine abstrakte Idee, sondern eine existentielle Notwendigkeit. Aufbauend auf Frankl hat die positive Psychologie Sinn als zentrale Dimension des menschlichen Wohlbefindens systematisiert.

Martela und Steger (2016) unterscheiden drei Dimensionen von Sinn:

Kohärenz – das Gefühl, dass das Leben verständlich und in sich stimmig ist.

Zweck – das Empfinden, auf ein Ziel hin zu leben und zu handeln.

Bedeutsamkeit – die Erfahrung, dass das Leben wertvoll ist und zählt.

Empirische Studien zeigen, dass Menschen, die in diesen drei Dimensionen hohe Werte berichten, resilienter gegenüber Stress sind, weniger depressive Symptome entwickeln und langfristig zufriedener leben (Steger, 2012; George & Park, 2016). Sinn wirkt dabei nicht nur als Ressource für psychische Gesundheit, sondern auch als Antrieb für Motivation und Engagement im Alltag.

Im Arbeitskontext wird Sinn zunehmend als Schlüssel für Motivation, Bindung und Gesundheit verstanden. Allan et al. (2019) weisen darauf hin, dass sinnvolle Arbeit das Gefühl verstärkt, Teil eines größeren Ganzen zu sein. Doch Sinn ist nicht auf Erwerbsarbeit beschränkt – auch private Lebensbereiche wie Elternschaft oder ehrenamtliches Engagement können zentrale Sinnquellen sein.

Elternschaft als Sinnquelle und Herausforderung

Elternschaft gilt als eine der tiefsten Formen menschlicher Verbundenheit und Verantwortung. Sie bietet die Möglichkeit, Werte weiterzugeben, emotionale Nähe zu erleben und zur nächsten Generation beizutragen. Zahlreiche Studien bestätigen, dass Eltern ihr Leben oft als sinnreicher wahrnehmen als Menschen ohne Kinder (Nelson et al., 2013). Die Geburt und Begleitung eines Kindes verändern Identität und Lebensperspektiven nachhaltig, indem sie neue Prioritäten, Ziele und Erfahrungen schaffen.

Gleichzeitig ist Elternschaft mit Belastungen verbunden. Eltern berichten häufiger von Schlafmangel, Stress und dem Gefühl permanenter Überforderung, insbesondere in den ersten Lebensjahren der Kinder (Nelson-Coffey et al., 2019). Mütter sind zudem stärker von Rollenkonflikten zwischen beruflicher Tätigkeit und Care-Arbeit betroffen, während Väter tendenziell größere Zugewinne an subjektivem Wohlbefinden berichten. Diese Unterschiede zeigen, dass Sinn im Elterndasein ambivalent sein kann: Er kann sowohl Quelle von Erfüllung als auch von Überforderung sein.

Das Konzept der Generativität nach McAdams und de St. Aubin (1992) bietet eine hilfreiche Perspektive. Es beschreibt die Motivation, für nachfolgende Generationen zu sorgen und Werte weiterzugeben. Elternschaft ist eine besonders greifbare Form von Generativität und kann so ein stabiles Fundament für Sinn sein. Studien zeigen, dass Menschen, die sich stark generativ erleben, eine höhere Lebenszufriedenheit und ein stabileres Selbstwertgefühl haben (An & Cooney, 2006).

Sinn im Alltag mit Kindern

Die größte Herausforderung für viele Eltern besteht darin, den Sinn nicht nur abstrakt zu erkennen, sondern auch im oft hektischen Alltag zu leben. Zwischen Kita, Schule, Arbeitsverpflichtungen und Haushalt kann das Gefühl entstehen, dass Sinn verloren geht. Psychologische Forschung bietet jedoch konkrete Hinweise, wie Sinn kultiviert werden kann:

Achtsamkeit im Familienalltag Achtsamkeitspraxis bedeutet, die Gegenwart bewusst wahrzunehmen, ohne sie zu bewerten (Kabat-Zinn, 1990). Eltern, die beim Spielen, Vorlesen oder Essen ganz präsent sind, erleben nicht nur mehr Sinn, sondern fördern auch die emotionale Bindung zu ihren Kindern. Schon kurze Rituale, wie bewusstes Innehalten vor dem Schlafengehen, können Sinnmomente schaffen.

Werteorientierung Sinn entsteht, wenn Handlungen den eigenen Werten entsprechen. Eltern, die ihre Erziehung bewusst an Werten wie Respekt, Empathie oder Kreativität ausrichten, berichten von stärkerer Zufriedenheit (Van Tongeren et al., 2015). Ein Beispiel: Wer Wert auf Selbstständigkeit legt, kann alltägliche Situationen wie das gemeinsame Kochen als gelebte Wertevermittlung betrachten.

Bedeutung in Routinen finden Auch scheinbar banale Tätigkeiten können Sinn entfalten. Psychologische Studien zeigen, dass Menschen, die Alltagsaktivitäten mit Bedeutung verknüpfen, mehr Erfüllung empfinden (Schnell, 2009). So kann das morgendliche gemeinsame Frühstück als Ritual verstanden werden, das Sicherheit und Zusammengehörigkeit vermittelt.

Selbstfürsorge als Voraussetzung für Sinn Eltern erleben Sinn nicht nur durch Fürsorge für ihre Kinder, sondern auch durch Selbstfürsorge. Pausen, Reflexion und die Pflege eigener Interessen sind entscheidend, um nicht auszubrennen. Sinn entsteht im Gleichgewicht zwischen Geben und Nehmen (Martela & Pessi, 2018).

Sinn durch soziale Einbettung Eltern profitieren von Netzwerken – sei es Familie, Freundeskreis oder Nachbarschaft. Gemeinsames Erleben und Unterstützung stärken das Gefühl, Teil eines größeren Ganzen zu sein, was wiederum Sinngefühle intensiviert (Huta, 2013).

Die Verbindung von Sinn in Elternschaft und Arbeitswelt

Elternschaft ist nicht isoliert von der Arbeitswelt zu betrachten. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf beeinflusst maßgeblich, wie Sinn erlebt wird. Studien zeigen, dass Eltern, die ihre Arbeit als sinnstiftend erleben, auch im Familienleben zufriedener sind (Greenhaus & Powell, 2006). Umgekehrt können Konflikte zwischen Arbeit und Familie Sinnkrisen hervorrufen.

Organisationen sind daher gefordert, Rahmenbedingungen zu schaffen, die Eltern eine sinnvolle Balance ermöglichen. Flexible Arbeitszeiten, familienfreundliche Strukturen und eine wertschätzende Kultur tragen nicht nur zum Wohlbefinden der Eltern bei, sondern fördern auch langfristig Motivation und Bindung im Unternehmen.

Fazit

Die Suche nach Sinn ist ein menschliches Grundbedürfnis, das in der Elternschaft eine besonders intensive Form annimmt. Elternschaft bietet einzigartige Gelegenheiten, Sinn durch Bindung, Wertevermittlung und Generativität zu erleben. Gleichzeitig erfordert sie die bewusste Auseinandersetzung mit Belastungen, Routinen und Rollenkonflikten. Sinn im Alltag entsteht durch Präsenz, Werteorientierung, die bewusste Gestaltung von Routinen und Selbstfürsorge. Wer als Elternteil den Sinn im Kleinen erkennt, stärkt nicht nur die eigene psychische Gesundheit, sondern vermittelt Kindern ein tiefes Gefühl von Geborgenheit und Orientierung. Damit verbindet sich Sinn nicht nur mit individuellem Wohlbefinden, sondern auch mit gesellschaftlicher Relevanz: Eltern, die Sinn leben, gestalten eine Kultur der Achtsamkeit und des Miteinanders für kommende Generationen.

Literaturverzeichnis

Allan, B. A., Autin, K. L., & Duffy, R. D. (2019). Self-determination and meaningful work: Exploring socioeconomic constraints. Frontiers in Psychology, 10, 2320. https://doi.org/10.3389/fpsyg.2019.02320

An, J. S., & Cooney, T. M. (2006). Psychological well-being in mid to late life: The role of generativity development and parent–child relationships across the lifespan. International Journal of Behavioral Development, 30(5), 410–421. https://doi.org/10.1177/0165025406071489

Frankl, V. E. (2006). …trotzdem Ja zum Leben sagen: Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager (13. Aufl.). Deutscher Taschenbuch Verlag. (Original 1946)

George, L. S., & Park, C. L. (2016). Meaning in life as comprehension, purpose, and mattering: Toward integration and new research questions. Review of General Psychology, 20(3), 205–220. https://doi.org/10.1037/gpr0000077

Greenhaus, J. H., & Powell, G. N. (2006). When work and family are allies: A theory of work–family enrichment. Academy of Management Review, 31(1), 72–92. https://doi.org/10.5465/amr.2006.19379625

Huta, V. (2013). Eudaimonia. In S. A. David, I. Boniwell, & A. C. Ayers (Hrsg.), The Oxford handbook of happiness (S. 201–213). Oxford University Press.

Kabat-Zinn, J. (1990). Full catastrophe living: Using the wisdom of your body and mind to face stress, pain, and illness. Delta.

Martela, F., & Pessi, A. B. (2018). Significant and sustainable work: A phenomenological study on the meaning of meaningful work. Frontiers in Psychology, 9, 363. https://doi.org/10.3389/fpsyg.2018.00363

Martela, F., & Steger, M. F. (2016). The three meanings of meaning in life: Distinguishing coherence, purpose, and significance. Journal of Positive Psychology, 11(5), 531–545. https://doi.org/10.1080/17439760.2015.1137623

McAdams, D. P., & de St. Aubin, E. (1992). A theory of generativity and its assessment through self-report, behavioral acts, and narrative themes in autobiography. Journal of Personality and Social Psychology, 62(6), 1003–1015. https://doi.org/10.1037/0022-3514.62.6.1003

Nelson, S. K., Kushlev, K., English, T., Dunn, E. W., & Lyubomirsky, S. (2013). In defense of parenthood: Children are associated with more joy than misery. Psychological Science, 24(1), 3–10. https://doi.org/10.1177/0956797612447798

Nelson-Coffey, S. K., Killingsworth, M., Layous, K., Cole, S., & Lyubomirsky, S. (2019). Parenthood is associated with greater well-being for fathers than mothers. Personality and Social Psychology Bulletin, 45(9), 1378–1390. https://doi.org/10.1177/0146167218824352

Schnell, T. (2009). The Sources of Meaning and Meaning in Life Questionnaire (SoMe): Relations to demographics and well-being. Journal of Positive Psychology, 4(6), 483–499. https://doi.org/10.1080/17439760903271074

Seligman, M. E. P. (2011). Flourish: A visionary new understanding of happiness and well-being. Free Press.

Steger, M. F. (2012). Making meaning in life. Psychological Inquiry, 23(4), 381–385. https://doi.org/10.1080/1047840X.2012.720832

Van Tongeren, D. R., Green, J. D., Davis, D. E., Worthington, E. L., Reid, C. A., & Hook, J. N. (2015). Forgiveness increases meaning in life. Social Psychological and Personality Science, 6(1), 47–55. https://doi.org/10.1177/1948550614541298

 

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