Zwischen Nähe und Überforderung – Eltern am Limit
von Lisa Seidel (Psychologin M.Sc. & Autorin)
Einleitung
Die Eltern-Kind-Beziehung ist ein zentraler Faktor für die gesunde psychische und soziale Entwicklung von Kindern. In ihr erleben Kinder emotionale Sicherheit, Orientierung und Regulation. Doch gerade in einer Gesellschaft, die von ständiger Verfügbarkeit, Selbstoptimierung und hohen Erwartungen geprägt ist, geraten viele Eltern an ihre Grenzen. Zwischen dem Anspruch, emotional verfügbar zu sein, und der Realität von Erschöpfung und Reizüberflutung droht ein Ungleichgewicht – für Eltern wie für Kinder.
Nähe als emotionales Fundament
Bindungstheoretisch betrachtet ist emotionale Nähe das Fundament kindlicher Entwicklung (Bowlby, 1982). Sie gibt Sicherheit, ermöglicht emotionale Regulation und ist Voraussetzung für exploratives Verhalten (Ainsworth et al., 1978). Kinder, die feinfühlig begleitet werden, entwickeln sichere Bindungen, ein positives Selbstbild und ein höheres Maß an Resilienz (Grossmann et al., 2003).
Diese Nähe entsteht durch körperliche Zuwendung, aktives Zuhören, Empathie und das Einhalten emotionaler Versprechen. Doch dauerhafte emotionale Verfügbarkeit erfordert innere Stabilität – und genau diese wird durch gesellschaftlichen und familiären Druck oft erschüttert.
Überforderung – der unsichtbare Alltag vieler Eltern
Elterliche Überforderung ist ein wachsendes gesellschaftliches Phänomen. Laut einer Studie des Deutschen Jugendinstituts (DJI) fühlen sich über 60 % der Eltern dauerhaft erschöpft, insbesondere durch die Vereinbarkeit von Familie und Beruf (DJI, 2021). Die Belastung steigt bei Alleinerziehenden, chronisch Kranken und Eltern mit psychisch belasteten Kindern deutlich an (Hölling et al., 2022).
Überforderte Eltern reagieren häufiger gereizt, ziehen sich emotional zurück oder verlieren die Fähigkeit, feinfühlig zu reagieren. Die Folge: Kinder erleben ihre Eltern als unberechenbar oder „nicht erreichbar“ – was zu Unsicherheit, Verhaltensauffälligkeiten oder Parentifizierung führen kann (Schmid et al., 2013; Brisch, 2011).
Selbstfürsorge ist kein Luxus, sondern Voraussetzung
Selbstfürsorge ist die Fähigkeit, eigene Bedürfnisse zu erkennen und zu respektieren – emotional, körperlich und sozial. In der Elternrolle bedeutet das, sich Zeiten der Regeneration, Momente der Abgrenzung und emotionale Entlastung zuzugestehen.
Studien zeigen, dass elterliche Selbstfürsorge nicht nur das psychische Wohlbefinden der Eltern stärkt, sondern direkt mit der Bindungsqualität und emotionalen Sicherheit der Kinder zusammenhängt (Neff & Faso, 2015; Sander & Böhm, 2018). Besonders Mütter neigen dazu, eigene Grenzen zu ignorieren – im Glauben, sie müssten für alle immer verfügbar sein.
Grenzen setzen – zum Schutz der Beziehung
Grenzen sind keine Schwäche, sondern notwendiger Teil gesunder Beziehungsgestaltung. Sie geben Orientierung, schützen vor Übergriffigkeit – und sichern die psychische Gesundheit aller Beteiligten. Gerade in der frühen Kindheit ist es wichtig, zwischen bedingungsloser Liebe und permanenter Verfügbarkeit zu unterscheiden. Wer sich abgrenzt, um präsent bleiben zu können, handelt nicht egoistisch, sondern verantwortungsbewusst.
Marshall Rosenberg (2005) betont in der Gewaltfreien Kommunikation, dass echte Verbindung nur entstehen kann, wenn Menschen sich ihrer eigenen Bedürfnisse bewusst sind und diese klar, aber empathisch kommunizieren.
Wege aus der Erschöpfung – was Eltern stärkt
Psychoedukation: Wissen über Stress, emotionale Regulation und elterliche Bedürfnisse hilft, Belastung einzuordnen.
Soziale Netzwerke: Unterstützung durch Familie, Freunde, Gruppen oder Beratungsangebote reduziert das Risiko von Isolation.
Alltagsstruktur: Rituale, Routinen und realistische Zeitplanung entlasten psychisch und organisatorisch.
Professionelle Begleitung: Coaching, psychologische Beratung oder Elterntrainings fördern Reflektion und stärken elterliche Kompetenzen (Latzko et al., 2011).
Literatur & Geschichten: Bücher, die Gefühle thematisieren und kindgerecht vermitteln, können Entlastung und Nähe schaffen – auch ohne ständige Erklärung.
Fazit
Elternschaft bedeutet Nähe zu geben – aber auch sich selbst nicht zu verlieren. Wer keine Grenzen zieht, brennt aus. Wer sich selbst nicht wahrnimmt, kann auf Dauer auch das Kind nicht wirklich sehen. Selbstfürsorge ist keine Pause von der Elternrolle, sondern ein zentraler Bestandteil davon.
Psychologische Bildung, Entstigmatisierung und niedrigschwellige Unterstützung können dazu beitragen, dass Eltern wieder handlungsfähig werden – nicht perfekt, aber präsent.
Literaturverzeichnis
Ainsworth, M. D. S., Blehar, M. C., Waters, E., & Wall, S. (1978). Patterns of attachment: A psychological study of the strange situation. Lawrence Erlbaum.
Bowlby, J. (1982). Attachment and loss: Vol. 1. Attachment (2nd ed.). Basic Books.
Brisch, K. H. (2011). Bindungsstörungen: Von der Bindungstheorie zur Therapie. Klett-Cotta.
Deutsches Jugendinstitut (DJI). (2021). DJI-Kinderbetreuungsreport 2021. https://www.dji.de
Grossmann, K. E., Grossmann, K., & Waters, E. (2003). Attachment from infancy to adulthood: The major longitudinal studies. Guilford Press.
Hölling, H., Schlack, R., Petermann, F., Holling, H., & Kölch, M. (2022). Kinder aus psychisch belasteten Familien in Deutschland. Bundesgesundheitsblatt, 65(3), 321–332. https://doi.org/10.1007/s00103-021-03446-1
Latzko, B., Haas, C., & Petermann, F. (2011). Förderung elterlicher Kompetenz: Neue Wege in der Elternarbeit. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie, 60(5), 328–342.
Neff, K. D., & Faso, D. J. (2015). Self-compassion and well-being in parents of children with autism. Mindfulness, 6(4), 938–947. https://doi.org/10.1007/s12671-014-0359-2
Rosenberg, M. B. (2005). Gewaltfreie Kommunikation: Eine Sprache des Lebens (3. Aufl.). Junfermann Verlag.
Sander, L., & Böhm, B. (2018). Selbstfürsorge bei Eltern: Eine vergessene Ressource? Forum Kinder- und Jugendschutz, 4, 22–26.
Schmid, M., Petermann, F., & Fegert, J. M. (2013). Kinder psychisch kranker Eltern: Entwicklungsrisiken und Fördermöglichkeiten. Kindheit und Entwicklung, 22(3), 145–152. https://doi.org/10.1026/0942-5403/a000110
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