von Lisa Seidel (Psychologin M.Sc.)
In einer Welt, die nie stillsteht, in der Bildschirme flimmern, Notifications blinken und Inhalte im Sekundentakt auf uns einprasseln, stellt sich eine zentrale Frage: Was macht diese Dauerverfügbarkeit von Reizen mit unserer Psyche? Besonders Kinder und Jugendliche wachsen heute in einem medial gesättigten Umfeld auf, das ihre Fähigkeit zur Aufmerksamkeitssteuerung herausfordert – und langfristig verändern kann.
Digitale Reizüberflutung: Ein stiller Stressfaktor
Die ständige Erreichbarkeit und das permanente Angebot an digitalen Inhalten fordern unser Gehirn in besonderem Maße heraus. Studien zeigen, dass die gleichzeitige Verarbeitung von multiplen Reizen – insbesondere durch Multitasking mit digitalen Medien – zu einer Überlastung des Arbeitsgedächtnisses führen kann (Ophir, Nass & Wagner, 2009). Das Resultat: Die Konzentrationsspanne verkürzt sich, die Fähigkeit zur tiefen Verarbeitung von Informationen nimmt ab.
Gerade bei Kindern kann diese Reizüberflutung langfristige Auswirkungen haben. Da das Gehirn sich in der Kindheit und Jugend noch in der Entwicklung befindet, sind Areale für Emotionsregulation, Impulskontrolle und exekutive Funktionen besonders sensibel (Christakis, 2009). Die Überstimulation durch digitale Medien kann somit neuropsychologisch tiefgreifende Effekte hinterlassen.
ADHS-ähnliche Symptome durch Mediennutzung?
Ein wachsendes Forschungsfeld beschäftigt sich mit der Frage, ob intensive Mediennutzung bei Kindern und Jugendlichen ADHS-ähnliche Symptome hervorrufen oder verstärken kann. Tatsächlich zeigen Untersuchungen, dass ein hoher Konsum digitaler Inhalte mit erhöhter Impulsivität, Unruhe und Aufmerksamkeitsdefiziten korreliert (Radesky, Schumacher & Zuckerman, 2015). Besonders das häufige Switchen zwischen Apps und Inhalten scheint das sogenannte „task-switching fatigue“ zu fördern – eine geistige Ermüdung durch ständigen Kontextwechsel.
Zudem gibt es Hinweise, dass der schnelle Dopaminausstoß beim Medienkonsum – insbesondere durch Social Media, Gaming oder kurze Videoclips – kurzfristig belohnend wirkt, langfristig aber die Fähigkeit zur Frustrationstoleranz und Aufmerksamkeitsbindung mindern kann (Kuss & Griffiths, 2015). Kinder lernen dadurch weniger, sich auf eine einzelne Aufgabe einzulassen – ein zentraler Baustein psychischer Resilienz.
Aufmerksamkeit ist trainierbar – aber nicht unbegrenzt
Neuropsychologisch betrachtet ist Aufmerksamkeit keine unbegrenzte Ressource, sondern ein begrenzter Mechanismus, der bewusst kultiviert werden muss. Ähnlich wie ein Muskel kann Konzentration trainiert werden – etwa durch fokussierte Tätigkeiten, Langeweile, kreative Spiele oder medienfreie Zeiträume. Entscheidend ist dabei die bewusste Regulation: Wann bin ich erreichbar? Wann lasse ich mich ablenken – und wann nicht?
Gerade im pädagogischen Kontext und in der elterlichen Erziehung braucht es neue Strategien, um Kindern diese Selbststeuerung zu vermitteln. Digital Detox bedeutet nicht, Technik zu verteufeln – sondern achtsam mit ihr umzugehen.
Medienkompetenz braucht psychologische Bildung
Die Digitalisierung ist kein Feind – aber sie fordert unsere Psyche heraus. Um mit Reizüberflutung, Ablenkung und den neuropsychologischen Folgen umzugehen, braucht es mehr als technische Schulung: Es braucht emotionale Bildung, Konzentrationstrainings, medienfreie Rituale und das Verständnis dafür, wie unser Gehirn funktioniert.
Denn wer sich selbst besser versteht, kann auch bewusster mit seiner Aufmerksamkeit umgehen – und der Reizflut standhalten.
Literaturverzeichnis
Christakis, D. A. (2009). The effects of infant media usage: what do we know and what should we learn? Acta Paediatrica, 98(1), 8–16. https://doi.org/10.1111/j.1651-2227.2008.01027.x
Kuss, D. J., & Griffiths, M. D. (2015). Internet addiction in children and adolescents: A review of empirical research. International Journal of Mental Health and Addiction, 13(3), 298–309. https://doi.org/10.1007/s11469-014-9528-5
Ophir, E., Nass, C., & Wagner, A. D. (2009). Cognitive control in media multitaskers. Proceedings of the National Academy of Sciences, 106(37), 15583–15587. https://doi.org/10.1073/pnas.0903620106
Radesky, J. S., Schumacher, J., & Zuckerman, B. (2015). Mobile and interactive media use by young children: the good, the bad, and the unknown. Pediatrics, 135(1), 1–3. https://doi.org/10.1542/peds.2014-2251
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