Juliane Lohse (Psychologiestudentin), 19.12.2024
Jeder Mensch ist einzigartig, doch was genau macht uns zu dem, was wir sind? Die Persönlichkeit eines Menschen setzt sich aus vielen Eigenschaften, Verhaltensweisen und inneren Mustern zusammen, die sich im Laufe des Lebens entwickeln. Sie zeigt sich nicht nur in äußeren Merkmalen wie Körpergröße oder Aussehen, sondern vor allem in den psychischen und emotionalen Aspekten – in den Gedanken, Gefühlen, Zielen und Handlungen.
Persönlichkeitspsychologie: Theorien und Kontroversen
Die Persönlichkeitspsychologie beschäftigt sich u.a. mit der Frage, warum Menschen so unterschiedlich sind, obwohl sie doch viele grundlegende Gemeinsamkeiten teilen. Diese Disziplin hat im Laufe der Zeit viele verschiedene Ansätze hervorgebracht, die jeweils einen anderen Blickwinkel auf das Verhalten und Erleben von Menschen werfen. Es gibt also nicht nur eine Theorie, die alle Aspekte der Persönlichkeit erklärt, sondern viele, die unterschiedliche Facetten des Menschseins betonen.
Zusätzlich werden wichtige Kontroversen über die Entwicklung der Persönlichkeit geführt. Zum Beispiel fragen sich Forscher:innen, ob es allgemeine Regeln für die Entwicklung der Persönlichkeitseigenschaften aller Menschen gibt oder ob jeder Mensch in seiner Einzigartigkeit betrachtet werden sollte. Auch wird diskutiert, ob unser Verhalten mehr durch unsere innere Persönlichkeit oder durch die äußere Situation beeinflusst wird. Prägen unsere Gene oder unsere Lebenserfahrungen stärker, wer wir sind? Und bleibt unsere Persönlichkeit im Laufe des Lebens stabil oder verändert sie sich? Diese Kontroversen zeigen, dass es viele unterschiedliche Sichtweisen darüber gibt, was unsere Persönlichkeit formt und wie sie sich im Laufe der Zeit entwickelt (Herzberg & Roth, 2014).
Während die Entwicklung der Persönlichkeit im Alltag häufig aus der individuellen Perspektive betrachtet wird – also durch den Vergleich mit der Person selbst – betrachtet die empirische Psychologie vor allem die differenzielle Entwicklung, d.h. die Veränderungen im Vergleich zu anderen Personen der gleichen Altersgruppe.
Die Big Five und ihre Anwendung im Kindesalter
Im täglichen Leben nutzen wir eine Vielzahl von Adjektiven, um die Persönlichkeit von Menschen zu beschreiben, wie etwa hilfsbereit, ängstlich, aggressiv oder intelligent. Diese Eigenschaftswörter ermöglichen uns, Charakterzüge auf einfache Weise auszudrücken. Jedoch sind diese Begrifflichkeiten aus Forschungssicht ungeeignet, um die Komplexität der menschlichen Persönlichkeit in allen Kulturen zu beschreiben (Asendorpf, 2018).
Aus diesem Grund reduzierten Forschende im Laufe der Jahre viele Eigenschaften auf wenige relevante Dimensionen (Neyer & Asendorpf, 2017). Diese Dimensionen fassen dementsprechend viele Eigenschaften zusammen und führen zu verschiedenen Persönlichkeitsprofilen (Asendorpf, 2018).
Das heute hauptsächlich genutzte Modell zur Beschreibung individueller Persönlichkeitsunterschiede ist das Big-Five-Modell. Dieses Modell beschreibt die Persönlichkeit anhand von fünf unabhängigen Dimensionen (Cotterill, 2023):
· Offenheit (Neigung zur Wissbegierde, Interesse an neuen Erfahrungen),
· Gewissenhaftigkeit (Neigung zur Disziplin, zu hoher Leistungsbereitschaft, zur Zuverlässigkeit),
· Extraversion (Neigung zur Geselligkeit und zum Optimismus),
· Verträglichkeit (Neigung zum Altruismus, zur Kooperation und Nachgiebigkeit) und
· Neurotizismus (Neigung zu emotionaler Labilität, Ängstlichkeit und Traurigkeit) (Rauthmann, 2022).
Einige Forscher:innen schlagen mehr als fünf Persönlichkeitsdimensionen vor, während andere bezweifeln, dass eine begrenzte Anzahl von Faktoren die gesamte Komplexität der Persönlichkeit abbilden kann. Trotzdem wurde das Big-Five-Modell vielfach bestätigt und hat zahlreiche Studien angestoßen. Zudem zeigten Menschen im Laufe ihres Lebens ähnliche Werte auf den Dimensionen, was darauf hinweist, dass die Merkmale relativ beständig sind (Cotterill, 2023).
Auch die Persönlichkeitsunterschiede von Kindern und Jugendlichen lassen sich mit dem Big-Five-Modell beschreiben, jedoch im Kindesalter erst ab dem fünften Lebensjahr (Herzberg & Roth, 2014) und erst im Jugendalter durch die Selbstbeurteilung (Neyer & Asendorpf, 2017).
Stabilität oder Veränderung: Wie flexibel ist die Persönlichkeit?
Widersprüchlich zu der weit verbreiteten Annahme, die Persönlichkeit werde bereits im Kindes- und Jugendalter weitgehend geprägt, können in diesem Alter und noch bis in das jüngere Erwachsenenalter hinein deutliche Persönlichkeitsänderungen stattfinden (Asendorpf, 2005). Laut Asendorpf (2005) steigt der sogenannte Stabilisierungsprozess bis zu einem Alter von 50 Jahren diskontinuierlich an und erreicht anschließend ein sehr hohes Niveau.
Dies trifft jedoch nicht für alle Merkmale zu. Intelligenzunterschiede beispielsweise stabilisieren sich bereits im früheren Alter (Asendorpf, 2018). Die Fragestellung, ob die Persönlichkeit stabil oder veränderbar ist, wird jedoch nach wie vor und wie bereits erwähnt, kontrovers diskutiert (Herzberg & Roth, 2014).
Temperament und seine Bedeutung für die Persönlichkeitsentwicklung
Das Temperament wird als eine frühe Form von Persönlichkeitsmerkmalen angesehen, welche bereits im Säuglingsalter sichtbar wird. Temperament wird definiert als angeborene, biologisch bedingte Neigung, die unser Verhalten und unsere Emotionen beeinflusst und sich im Laufe der Zeit entwickeln.
Diese grundlegenden Tendenzen, zum Beispiel, wie ein Kind auf Stress oder neue Situationen reagiert, spielen eine wichtige Rolle bei der Entwicklung von Persönlichkeitsmerkmalen, die später im Leben sichtbar werden, wie etwa in den fünf Bereichen der Big Five Persönlichkeitsmerkmale (McCrae et al., 2000). Eine Studie von Henderson und Wilson (2017) zeigte beispielsweise, dass Kinder mit besserer Aufmerksamkeitskontrolle weniger Gefahr liefen, Angstprobleme zu entwickeln, während Kinder mit schlechterer Aufmerksamkeitsregulation anfälliger waren.
Die bisherige Forschung zeigt, dass es einen moderaten Zusammenhang zwischen dem Temperament von Säuglingen und späteren Persönlichkeitsmerkmalen gibt, aber Temperament allein nicht die Persönlichkeit bestimmt. Auch wenn frühere Studien zum Temperament Einblicke in die frühen Ursprünge von Persönlichkeitsmerkmalen liefern, fehlt es nach wie vor an einer umfassenden und zusammenhängenden Erklärung, wie sich unterschiedliche Persönlichkeitsprofile von der Kindheit bis in das Erwachsenenalter entwickeln (Anaya & Pérez-Edgar, 2018).
Einfluss von Bindung, Selbstwert und Umwelt auf die Persönlichkeitsentwicklung
Die Entwicklung der Persönlichkeit ist ein hoch komplexer Prozess. Aus diesem Grund bietet dieser Blogeintrag nur einen Einblick in die Persönlichkeitsentwicklung, welche von biologischen, sozialen und kulturellen Faktoren beeinflusst wird. Die Faktoren wirken zusammen und prägen die Identität, das Selbstbild sowie die sozialen und kognitiven Fähigkeiten eines Menschen. Sie sind zudem vom Alter der Person abhängig (Herzberg & Roth, 2014).
Besonders wichtig ist, dass Kinder und Jugendliche ihre Umwelt aktiv mitgestalten, was ihre Entwicklung maßgeblich beeinflusst. Die Entwicklung verläuft nicht linear, sondern ist abhängig von den Erfahrungen und der sozialen Umgebung, die das Individuum prägen (Caprara & Cervone, 2000).
Einfluss der Persönlichkeitsentwicklung auf zukünftige Beziehungen, Leistung und Gesundheit
Die Persönlichkeit in der Kindheit hat einen wesentlichen Einfluss auf den Lebensverlauf und die Entwicklung von Kindern. Frühzeitig entwickelte Persönlichkeitsmerkmale prägen, wie Kinder die Welt erleben, soziale Beziehungen pflegen, Bildungsaufgaben bewältigen und ihre Gesundheit erhalten.
Einfluss auf Beziehungen:
Kinder mit positiven Persönlichkeitsmerkmalen wie Extrovertiertheit und emotionaler Stabilität haben bessere soziale Kompetenzen und pflegen gesunde Freundschaften (Jensen‐Campbell & Graziano, 2001). Viele Studien haben sich bereits damit beschäftigt, wie unsere Persönlichkeit Freundschaften und romantische Beziehungen beeinflusst.
Was jedoch weniger beachtet wird, ist, dass auch die Persönlichkeit der Eltern eine Rolle dabei spielt, wie sie ihre Kinder erziehen und welche Beziehung sie zu ihnen aufbauen (Belsky & Barends, 2002). Forschungsergebnisse zeigen, dass Eltern, die positiv emotional und angenehm sind, tendenziell einfühlsamer und reaktionsschneller in ihrer Erziehung sind. Im Gegensatz dazu neigen Eltern mit negativeren Emotionen wie Angst oder Reizbarkeit dazu, weniger kompetent in ihrer Erziehung zu sein (Clark, Kochanska, & Ready, 2000).
Leistung und Erfolg:
Gewissenhaftigkeit und positive Emotionalität sind starke Prädiktoren für akademische und berufliche Leistungen. Kinder mit einem hohen Gewissenhaftigkeitswert zeigen bessere Schulleistungen (Judge, Higgins, Thoreson, & Barrick, 1999).
Gesundheit:
Persönlichkeitsmerkmale haben auch Auswirkungen auf die Gesundheit. Menschen mit positiven Persönlichkeitsmerkmalen wie Gewissenhaftigkeit und positiver Emotionalität leben länger und sind weniger krankheitsanfällig (Danner, Snowdon, & Friesen, 2001).
Im Gegensatz dazu können Feindseligkeit und negative Emotionen das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen erhöhen (Miller, Smith, Turner, Guijarro, & Hallet, 1996).
Fazit
Die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern ist ein komplexer Prozess, der von biologischen, sozialen und kulturellen Faktoren geprägt wird. Frühe Merkmale wie Temperament beeinflussen die spätere Persönlichkeit, doch auch Erfahrungen und Bindungen, insbesondere zu den Eltern, spielen eine zentrale Rolle.
Eine positive und unterstützende Umgebung fördert die Entwicklung von Schlüsselmerkmalen wie Gewissenhaftigkeit, emotionaler Stabilität und sozialen Fähigkeiten. Die Persönlichkeit von Kindern ist jedoch nicht festgelegt, sondern kann sich im Laufe der Zeit verändern.
Kinder können durch ihre Interaktionen und Erfahrungen in ihrer Umwelt ihre Eigenschaften weiterentwickeln, was die Bedeutung einer förderlichen Umgebung unterstreicht. Diese Faktoren tragen nicht nur zu sozialen und schulischen Erfolgen bei, sondern auch zur langfristigen Gesundheit und Lebensqualität.
Literatur:
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