Permissive Erziehung – Wenn gut gemeint nicht gut tut

Permissive Erziehung – Wenn gut gemeint nicht gut tut

Ein psychologischer Blick auf ein Erziehungskonzept ohne Grenzen und seine Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche

von Lisa Seidel (Psychologin M.Sc. & Autorin)

Einleitung

Eltern möchten heute vieles anders machen als frühere Generationen. Statt Strenge und Kontrolle setzen viele auf Nähe, Wertschätzung und freie Entfaltung. Dieser Wandel ist grundsätzlich positiv – doch er birgt auch neue Risiken. Denn wo Eltern Grenzen scheuen, klare Ansagen vermeiden und stattdessen auf maximale Freiheit setzen, entsteht häufig ein Erziehungsstil, der Kindern mehr schadet als hilft: die permissive Erziehung.

In diesem Beitrag werfen wir einen fundierten Blick auf die Merkmale, psychologischen Folgen und gesellschaftlichen Ursachen dieses Erziehungsstils – und zeigen, was Kinder wirklich brauchen, um sich gesund zu entwickeln.

Was ist permissive Erziehung?

Permissive Erziehung (auch: nachgiebige oder laissez-faire-Erziehung) beschreibt einen Stil, bei dem die Bedürfnisse und Wünsche des Kindes über alles gestellt werden – häufig auf Kosten von Struktur, Grenzen und klaren elterlichen Erwartungen.

Geprägt wurde der Begriff von Diana Baumrind (1967), deren Studien zu Erziehungsstilen bis heute als Referenz gelten. Die permissive Erziehung ist durch zwei Merkmale gekennzeichnet:

Hohe emotionale Wärme: Eltern zeigen viel Zuwendung, Trost und Nachsicht.

Niedrige Kontrolle: Es gibt kaum Regeln, Strukturen oder Konsequenzen.

Oberflächlich betrachtet wirkt dieser Stil empathisch und beziehungsorientiert – tatsächlich aber fehlt Kindern in diesem Rahmen oft die Orientierung, die sie zur emotionalen und sozialen Reifung brauchen.

Wie sieht permissive Erziehung im Alltag aus?

Einige typische Verhaltensweisen permissiver Eltern:

Konflikte werden vermieden oder schnell mit Nachgiebigkeit gelöst („Na gut, dann eben doch Fernsehen“)

Regeln werden nicht konsequent durchgesetzt („Eigentlich solltest du im Bett sein, aber wenn du noch spielen willst…“)

Entscheidungen werden dem Kind überlassen, auch wenn es überfordert ist („Willst du heute in die Schule gehen oder lieber nicht?“)

Kritik oder Korrektur werden vermieden, aus Angst, das Kind zu kränken

Diese Verhaltensweisen können kurzfristig Harmonie erzeugen – langfristig jedoch fehlt Kindern die verlässliche Führung, an der sie sich orientieren können.

Psychologische Auswirkungen – Was Studien zeigen

Zahlreiche psychologische Studien belegen: Kinder, die überwiegend permissiv erzogen werden, haben ein erhöhtes Risiko für emotionale und soziale Auffälligkeiten. Sie neigen eher zu:

geringer Frustrationstoleranz

geringer Selbstregulation

Impulsivität und Ablenkbarkeit

Schwierigkeiten mit Regeln und Autoritäten

sozialem Rückzug oder Dominanzverhalten gegenüber Gleichaltrigen

Maccoby & Martin (1983) sowie Lamborn et al. (1991) stellten fest, dass permissiv erzogene Kinder in vielen Bereichen der psychosozialen Entwicklung schlechter abschneiden als Kinder mit klaren elterlichen Erwartungen und liebevoll gesetzten Grenzen.

Auch eine Metaanalyse von Pinquart (2017) zeigt: Permissive Erziehung steht in Zusammenhang mit erhöhtem Risiko für Depressionen, Angststörungen und antisozialem Verhalten – sowohl im Kindesalter als auch später im Jugend- und Erwachsenenalter.

Warum Eltern in die Permissivitätsfalle tappen

Viele Eltern wählen diesen Stil nicht bewusst – sie wollen es einfach „besser machen“ als ihre eigenen Eltern, die vielleicht autoritär, kalt oder überfordernd waren. Es ist ein gut gemeinter Versuch, liebevoll zu begleiten. Weitere Gründe sind:

Angst vor Konflikten oder Liebesentzug des Kindes

eigene Unsicherheiten oder Schuldgefühle

fehlendes Wissen über kindliche Entwicklungsbedürfnisse

der Wunsch, das Kind möglichst „frei“ aufwachsen zu lassen

idealisierte Vorstellungen aus sozialen Medien, die „achtsame Erziehung“ mit grenzenloser Nachgiebigkeit verwechseln

Doch Kinder brauchen nicht nur Liebe – sie brauchen Halt, Orientierung und jemanden, der die Verantwortung für das größere Ganze trägt.

Grenzen sind keine Bestrafung – sie sind Beziehungsarbeit

Ein zentrales Missverständnis der permissiven Erziehung ist die Annahme, dass Grenzen automatisch autoritär oder lieblos seien. Das Gegenteil ist der Fall: Grenzen, die klar und verständnisvoll gesetzt werden, vermitteln Kindern Sicherheit – emotional, sozial und kognitiv.

Studien zur Selbstregulation und Emotionsentwicklung (z. B. Eisenberg et al., 2005) belegen, dass Kinder durch klare Erwartungen und einfühlsames Co-Regulieren lernen, mit ihren Gefühlen und Impulsen umzugehen. Sie können Grenzen zuerst von außen akzeptieren, bevor sie sie innerlich übernehmen – eine zentrale Voraussetzung für Reife und Eigenverantwortung.

Wie eine gesunde Alternative aussieht: Der autoritative Stil

Im Gegensatz zur permissiven Erziehung steht der autoritative Erziehungsstil, der ebenfalls auf Beziehung, Wärme und Verständnis setzt – aber ergänzt durch klare Regeln und realistische Erwartungen.

Autoritative Eltern:

fördern die Selbstständigkeit, geben aber altersgerechte Orientierung

setzen liebevoll, aber konsequent Grenzen

begleiten Emotionen, ohne das Verhalten unreflektiert zu lassen

reagieren flexibel, aber nicht beliebig

leben die Haltung vor, die sie dem Kind vermitteln möchten

Dieser Stil wird in der Forschung als der am stärksten entwicklungsfördernde angesehen (Baumrind, 1991; Steinberg, 2001; Grolnick & Pomerantz, 2009).

Fazit

Permissive Erziehung basiert oft auf guter Absicht – doch gute Absichten reichen nicht, wenn Orientierung, Verantwortung und liebevolle Führung fehlen. Kinder brauchen Nähe, aber auch Reibung. Sie brauchen Trost, aber auch Regeln. Sie brauchen Erwachsene, die bereit sind, Konflikte auszuhalten – und Grenzen zu setzen, nicht um zu kontrollieren, sondern um zu halten.

Denn in einer Welt, die zunehmend laut und fordernd wird, ist innere Stärke kein Zufall – sondern das Ergebnis von verlässlicher, verantwortungsvoller und beziehungsorientierter Erziehung.

Literaturverzeichnis

Baumrind, D. (1967). Child care practices anteceding three patterns of preschool behavior. Genetic Psychology Monographs, 75, 43–88.

Baumrind, D. (1991). The influence of parenting style on adolescent competence and substance use. The Journal of Early Adolescence, 11(1), 56–95.

Dwairy, M., & Achoui, M. (2006). Parenting styles, individuation, and mental health of Arab adolescents: A third cross-regional research study. Journal of Cross-Cultural Psychology, 37(3), 262–272. https://doi.org/10.1177/0022022106286922

Eisenberg, N., Zhou, Q., Spinrad, T. L., Valiente, C., Fabes, R. A., & Liew, J. (2005). Relations among positive parenting, children’s effortful control, and externalizing problems: A three-wave longitudinal study. Child Development, 76(5), 1055–1071. https://doi.org/10.1111/j.1467-8624.2005.00897.x

Grolnick, W. S., & Pomerantz, E. M. (2009). Issues and challenges in studying parental control: Toward a new conceptualization. Child Development Perspectives, 3(3), 165–170. https://doi.org/10.1111/j.1750-8606.2009.00099.x

Lamborn, S. D., Mounts, N. S., Steinberg, L., & Dornbusch, S. M. (1991). Patterns of competence and adjustment among adolescents from authoritative, authoritarian, indulgent, and neglectful families. Child Development, 62(5), 1049–1065.

Maccoby, E. E., & Martin, J. A. (1983). Socialization in the context of the family: Parent–child interaction. In P. H. Mussen (Ed.), Handbook of child psychology: Vol. 4. Socialization, personality and social development (pp. 1–101). Wiley.

Pinquart, M. (2017). Associations of parenting dimensions and styles with internalizing symptoms in children and adolescents: A meta-analysis. Marriage & Family Review, 53(7), 613–640. https://doi.org/10.1080/01494929.2016.1247761

Steinberg, L. (2001). We know some things: Parent–adolescent relationships in retrospect and prospect. Journal of Research on Adolescence, 11(1), 1–19. https://doi.org/10.1111/1532-7795.00001

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