Kulturelle Unterschiede in der Emotionsregulation bei Kindern - MoonWalker Verlag

Kulturelle Unterschiede in der Emotionsregulation bei Kindern

Einleitung

Emotionen gehören zu den grundlegendsten Erfahrungen des Menschseins. Freude, Wut, Angst, Trauer – all diese Empfindungen erleben wir unabhängig von Nationalität, Sprache oder sozialem Status. Doch wie Kinder lernen, mit diesen Emotionen umzugehen, ist keineswegs universell. Vielmehr zeigt sich, dass emotionales Verhalten, seine Bewertung und seine Regulation tief in kulturellen Werten und Normen verwurzelt sind. Kinder wachsen in einem emotionalen Klima auf, das ihnen vermittelt, welche Gefühle angemessen sind, wann sie geäußert werden dürfen – und wann nicht. Gerade in einer zunehmend vielfältigen Gesellschaft, in der Kinder mit Migrationshintergrund, bikulturellen Elternhäusern oder unterschiedlichen religiösen Prägungen aufwachsen, ist es entscheidend, Emotionsregulation im kulturellen Kontext zu verstehen. Denn nur so können wir vermeiden, kulturell geprägte Ausdrucksformen als pathologisch zu deuten – und Kindern helfen, sich in ihrer emotionalen Welt sicher zu fühlen.

Was bedeutet Emotionsregulation?

In der Entwicklungspsychologie beschreibt Emotionsregulation die Fähigkeit, eigene Gefühle bewusst wahrzunehmen, zu steuern und in sozialen Kontexten angemessen zu äußern. Dabei handelt es sich keineswegs um ein rein individuelles Geschehen. Besonders in der frühen Kindheit erfolgt Emotionsregulation zunächst über die Co-Regulation durch Bezugspersonen – etwa wenn ein Kleinkind weint und von der Mutter beruhigend in den Arm genommen wird. Erst später entwickeln Kinder zunehmend autonome Strategien, wie das bewusste Umlenken der Aufmerksamkeit oder die kognitive Neubewertung einer Situation (Gross, 1998). Welche Formen der Regulation dabei als wünschenswert gelten, hängt stark von der jeweiligen Kultur ab. Kulturen prägen die emotionale Sozialisation durch Regeln, Vorbilder und sprachliche Codes. So lernen Kinder nicht nur, was sie fühlen, sondern auch, wie sie es zeigen dürfen – und was besser im Verborgenen bleibt.

Emotionale Sozialisation im kulturellen Vergleich

In kollektivistisch geprägten Kulturen – beispielsweise in Teilen Ostasiens, Afrikas oder der arabischen Welt – liegt der Fokus häufig auf Harmonie, Anpassung und dem Wohl der Gemeinschaft. In solchen Kontexten wird die Zurückhaltung negativer Emotionen, insbesondere von Wut oder Trotz, oft als sozial kompetent bewertet. Kinder lernen früh, dass emotionale Zurückhaltung ein Zeichen von Reife und Rücksicht ist. Die Familie und das soziale Umfeld stehen im Vordergrund; Individualität wird meist in den Dienst der Gemeinschaft gestellt. Emotionen, die das Gleichgewicht stören könnten, werden daher eher reguliert, unterdrückt oder in subtilen Formen ausgedrückt. Demgegenüber fördern individualistische Kulturen – wie in vielen westlichen Ländern – den offenen Ausdruck von Emotionen. Hier gelten Authentizität, Selbstverwirklichung und emotionale Transparenz als erstrebenswert. Kindern wird häufig beigebracht, dass es wichtig ist, Gefühle zu benennen, über sie zu sprechen und sich selbst emotional ernst zu nehmen. Der Ausdruck von Wut kann hier – anders als in kollektivistischen Kulturen – als Zeichen von Selbstbehauptung und persönlicher Stärke verstanden werden (Butler et al., 2007). Diese Unterschiede in der Emotionssozialisation führen nicht nur zu abweichenden emotionalen Verhaltensweisen, sondern beeinflussen auch, welche emotionalen Strategien Kinder bevorzugt entwickeln – etwa das Zurückziehen, das Beruhigen, das Anpassen oder das Konfrontieren.


Zwischen zwei Welten: Kinder mit bikulturellem Hintergrund

Besonders herausfordernd wird die Situation für Kinder, die zwischen zwei Kulturen aufwachsen – etwa in Familien mit Migrationsgeschichte oder in multikulturellen Schulklassen. In solchen Fällen können sich widersprüchliche emotionale Anforderungen ergeben. Während das Kind zu Hause lernt, Gefühle eher zurückhaltend auszudrücken, erwartet die Schule möglicherweise ein offenes, sprachlich differenziertes Benennen von Emotionen. Diese Divergenz kann zu innerer Verunsicherung führen, die emotionale Entwicklung erschweren und das Selbstbild des Kindes schwächen. Es besteht die Gefahr, dass kulturell bedingte Ausdrucksformen als unpassend oder gar „auffällig“ wahrgenommen werden, obwohl sie im ursprünglichen Kontext völlig funktional sind. Lehrkräfte und pädagogische Fachkräfte, die diese kulturellen Unterschiede nicht berücksichtigen, könnten unbewusst zur Ausgrenzung oder Missdeutung beitragen. Umso wichtiger ist es, dass Bezugspersonen mit interkultureller Kompetenz agieren. Dazu gehört nicht nur Wissen über kulturelle Unterschiede, sondern auch die Bereitschaft, emotionale Ausdrucksformen als Teil der individuellen Biografie zu verstehen – nicht als Abweichung von einer vermeintlichen Norm. 


Pädagogische und psychologische Perspektiven

In der psychologischen Beratung und pädagogischen Arbeit mit Kindern ist es unerlässlich, emotionale Ausdrucksformen immer im kulturellen Kontext zu betrachten. Was in einem Kulturkreis als Zeichen von Respekt gilt – etwa der Blick nach unten beim Sprechen mit Erwachsenen – kann in einem anderen als Unsicherheit oder Unterwürfigkeit interpretiert werden. Es braucht daher eine kultursensible Haltung, die nicht vorschnell bewertet, sondern nachfragt: Was bedeutet dieses Verhalten im Kontext der Herkunftsfamilie? Welche Botschaft steckt dahinter? Welche emotionale Strategie wird hier möglicherweise verfolgt? Therapeutisch wie pädagogisch bedeutet das: Zuhören, Perspektivwechsel ermöglichen und Sicherheit geben. Gerade in multikulturellen Gruppen kann der gezielte Einsatz von mehrsprachiger Kinderliteratur helfen, emotionale Themen zugänglich zu machen und Brücken zu bauen – etwa zwischen sprachlicher Ausdrucksfähigkeit und emotionalem Erleben.


Fazit

Die Entwicklung von Emotionsregulation ist kein rein individueller Prozess – sie ist immer auch ein kulturelles Lernfeld. Kinder orientieren sich an den Normen ihrer Umgebung und passen ihren emotionalen Ausdruck daran an. Wenn wir sie dabei unterstützen wollen, ihre Gefühle gesund zu regulieren, müssen wir ihre kulturellen Prägungen mitdenken. Erst wenn emotionale Sicherheit nicht nur im familiären, sondern auch im sozialen Raum gegeben ist, können Kinder sich frei entfalten – mit all ihren Gefühlen, in all ihren Sprachen.

Literaturverzeichnis

Butler, E. A., Lee, T. L., & Gross, J. J. (2007). Emotion regulation and culture: Are the social consequences of emotion suppression culture-specific? Emotion, 7(1), 30–48.
https://doi.org/10.1037/1528-3542.7.1.30

Cheung, H., & Park, H. (2010). Anger suppression, social competence, and school adjustment in Korean and European American children. Journal of Cross-Cultural Psychology, 41(1), 124–135. https://doi.org/10.1177/0022022109348932

Gross, J. J. (1998). The emerging field of emotion regulation: An integrative review. Review of General Psychology, 2(3), 271–299. https://doi.org/10.1037/1089-2680.2.3.271

Mesquita, B., De Leersnyder, J., & Boiger, M. (2017). The cultural construction of emotions. Current Opinion in Psychology, 17, 179–184. https://doi.org/10.1016/j.copsyc.2017.07.005

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