Kleine Kinder, große Last – Wenn Kinder Verantwortung übernehmen, die nicht kindgerecht ist - MoonWalker Verlag

Kleine Kinder, große Last – Wenn Kinder Verantwortung übernehmen, die nicht kindgerecht ist

von Lisa Seidel (Psychologin M.Sc. & Autorin)

Wenn Kindsein nicht möglich ist

Kindheit gilt in unserer Gesellschaft als geschützter Raum – ein Zeitraum, in dem Kinder behütet aufwachsen, spielen, lernen und sich entwickeln dürfen. Doch diese Vorstellung entspricht nicht der Realität vieler Kinder. In manchen Familien werden Kinder früh mit Aufgaben, Erwartungen und Rollen belastet, die ihre emotionale und kognitive Entwicklung übersteigen. Sie übernehmen Verantwortung für das psychische Wohlergehen, die Organisation oder sogar die Versorgung ihrer Eltern oder Geschwister – oft ohne dass jemand es bemerkt. Dieses Phänomen wird als Parentifizierung bezeichnet.

Was ist Parentifizierung?

Parentifizierung beschreibt eine Form der Rollenumkehr innerhalb familiärer Strukturen, bei der Kinder Aufgaben und Verantwortlichkeiten übernehmen, die eigentlich den Erwachsenen zustehen (Boszormenyi-Nagy & Spark, 1973). Dabei wird zwischen instrumenteller und emotionaler Parentifizierung unterschieden:

  • Bei instrumenteller Parentifizierung übernehmen Kinder konkrete, oft alltägliche Aufgaben wie Kochen, Übersetzen, Betreuung von Geschwistern oder Pflege von Familienangehörigen.
  • Emotionale Parentifizierung beschreibt eine viel subtilere Belastung: Das Kind übernimmt die emotionale Stütze für die Eltern, vermittelt bei Konflikten, hört zu, tröstet – und ordnet dabei die eigenen Bedürfnisse dauerhaft unter (Hooper et al., 2011).

In beiden Fällen verschieben sich die familiären Rollen: Das Kind wird zum „kleinen Erwachsenen“ – mit gravierenden Folgen für seine seelische Entwicklung.

Ursachen: Belastete Familiensysteme und Migrationserfahrungen

Parentifizierung tritt besonders häufig in Familien auf, die durch chronischen Stress, Krankheit, psychische Belastung, Sucht oder finanzielle Not geprägt sind. Auch Kinder mit Flucht- oder Migrationshintergrund übernehmen überproportional oft erwachsene Rollen – etwa als Dolmetscher:innen, emotionale Vermittler:innen oder als Ersatz für abwesende oder überforderte Elternteile (Walsh, 2016).

In kulturellen Kontexten, in denen familiäre Loyalität, Pflichtbewusstsein oder das Kollektiv besonders hoch bewertet werden, wird das Verhalten parentifizierter Kinder oft sogar gelobt – obwohl es langfristig psychisch belastend sein kann (Jurkovic, 1997).

Was Parentifizierung mit Kindern macht

Auf den ersten Blick wirken parentifizierte Kinder oft reif, hilfsbereit und selbstständig. Sie übernehmen Verantwortung, sind pflichtbewusst, angepasst. Doch hinter dieser Fassade verbergen sich häufig emotionale Überforderung, unsichtbare Loyalitätskonflikte und ein Mangel an eigener Bedürfniswahrnehmung.

Langfristig zeigen betroffene Kinder ein erhöhtes Risiko für:

  • psychosomatische Beschwerden
  • depressive Symptome
  • Angststörungen
  • Beziehungsstörungen und Selbstwertprobleme im Jugend- und Erwachsenenalter (Wells & Jones, 2000; Hooper et al., 2011)

Vor allem die emotionale Parentifizierung hinterlässt tiefe Spuren, da die Kinder in ihrer Rolle „funktionieren“, ohne je kindgerecht gesehen oder entlastet zu werden. Das „funktionierende Kind“ wird selten auffällig – aber innerlich oft instabil.

Wie Fachkräfte helfen können

Pädagogische Fachkräfte, Lehrer:innen und Berater:innen können viel bewirken, wenn sie parentifizierte Kinder erkennen und angemessen begleiten. Dazu gehört ein sensibler Blick auf die Familiendynamik: Übernimmt das Kind dauerhaft Aufgaben, die seine Entwicklung beeinträchtigen könnten? Trägt es Verantwortung, die nicht seinem Alter entspricht?

Hilfreiche Maßnahmen können sein:

  • Stabilisierung der Kinderrolle: Kinder sollen entlastet und in ihrer Position als Kind gestärkt werden
  • Raum für kindliche Bedürfnisse schaffen: z. B. durch freie Spielzeiten, kreative Ausdrucksmöglichkeiten, verlässliche Beziehungsangebote
  • Stärkung der Selbstwahrnehmung: über Gesprächsangebote, Reflexion von Gefühlen und Grenzen
  • Zusammenarbeit mit psychosozialen Diensten: Eltern können entlastet werden, wenn das Hilfesystem tragfähig ist
  • Gespräch mit den Eltern auf Augenhöhe: Ohne Schuldzuweisung, aber mit Klarheit über Entwicklungsrisiken

Nicht zuletzt hilft es, parentifizierten Kindern zu signalisieren: Du darfst Kind sein. Und du musst dich nicht verantwortlich fühlen für das Glück anderer.

Fazit

Parentifizierung ist eine stille Form der Überforderung, die oft unbemerkt bleibt – gerade weil die betroffenen Kinder „funktionieren“. Dabei liegt die Last, die sie tragen, oft weit außerhalb dessen, was kindgerecht ist. Wer Kinderschutz ernst nimmt, muss auch hinschauen, wenn Kinder zu früh erwachsen werden. Und Wege finden, ihnen das Kindsein zurückzugeben – Stück für Stück, mit Geduld, Verständnis und der richtigen Unterstützung.

Literaturverzeichnis

Boszormenyi-Nagy, I., & Spark, G. M. (1973). Invisible loyalties: Reciprocity in intergenerational family therapy. Harper & Row.

Hooper, L. M., DeCoster, J., White, N., & Voltz, M. L. (2011). Characterizing the magnitude of the relation between parentification and outcomes: A meta-analysis. Journal of Clinical Psychology, 67(3), 241–262. https://doi.org/10.1002/jclp.20758

Jurkovic, G. J. (1997). Lost childhoods: The plight of the parentified child. Brunner/Mazel.

Walsh, F. (2016). Strengthening family resilience (3rd ed.). Guilford Press.

Wells, M., & Jones, R. (2000). Childhood parentification and shame-proneness: A preliminary study. The American Journal of Family Therapy, 28(1), 19–27.

Bildquellen: istock.de

 

 

 

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