Von Lisa Seidel (Psychologin M.Sc. & Autorin)
Einleitung
Im Zeitalter zunehmender Migration und kultureller Vielfalt wachsen viele Kinder in einem Spannungsfeld zwischen Herkunftskultur und Aufnahmegesellschaft auf. Besonders im frühen Kindesalter – also im Zeitraum der Identitätsbildung – erleben Kinder mit Migrations- oder Fluchthintergrund diese doppelte kulturelle Prägung häufig als innere Zerrissenheit oder Verunsicherung. Kindertageseinrichtungen nehmen dabei eine zentrale Rolle ein: Sie können stabilisierend, orientierend und identitätsstärkend wirken – oder auch das Gefühl von Fremdheit und Anderssein ungewollt verstärken (Leyendecker et al., 2014).
Frühe Identitätsentwicklung und kulturelle Einflüsse
Die Entwicklung eines kulturellen Selbstverständnisses beginnt bereits im Vorschulalter. Kinder nehmen früh Unterschiede in Sprache, Verhalten, Kleidung oder Alltagsgewohnheiten wahr und versuchen, diese in ihr Weltbild zu integrieren (Thomas, 2006). Für Kinder aus mehrsprachigen oder kulturell „gemischten“ Familien bedeutet dies oft, zwei oder mehr Bezugsrahmen gleichzeitig zu verarbeiten. Dabei kann es zu Irritationen kommen, etwa wenn kulturelle Normen der Familie im Kontrast zu denen der Kita oder der peer group stehen (Borke et al., 2011).
Gerade Kinder mit Fluchthintergrund bringen häufig bereits prägende Erfahrungen mit, die mit Unsicherheit, Heimatverlust oder Isolation einhergehen. Der Aufbau einer stabilen Ich-Identität gestaltet sich unter solchen Bedingungen besonders komplex (Frühe Chancen, o. D.-a). Gleichzeitig birgt diese biografische Vielfalt ein großes Potenzial an Resilienz und Anpassungsfähigkeit – sofern die pädagogischen Rahmenbedingungen unterstützend gestaltet sind.
Zwischen Anpassung und Herkunft – der Balanceakt
Ein zentrales Spannungsfeld in der Identitätsfindung entsteht, wenn Kinder sich zwischen Anpassung an die neue Kultur und Loyalität zur Herkunftskultur hin- und hergerissen fühlen. In diesem Kontext spricht man von kultureller Dissonanz – einem Gefühl der Inkongruenz zwischen zwei Bezugssystemen, das sich im Verhalten oder emotionalen Rückzug äußern kann (Miller et al., 2018). Kinder erleben mitunter, dass Werte oder Erwartungen ihrer Familie nicht mit denen der Kita übereinstimmen, was zu innerer Ambivalenz führen kann.
Ein weiterer Aspekt ist das sprachliche Selbstverständnis. Viele Kinder kommunizieren im familiären Umfeld in einer anderen Sprache als in der Kita. Während Mehrsprachigkeit grundsätzlich ein Vorteil ist, kann der Erwerb der Zweitsprache auf Kosten der Erstsprache als Verlust empfunden werden – insbesondere, wenn das soziale Umfeld diese Sprache als „anders“ oder „fremd“ abwertet (Yagmurlu & Mishina-Matsuzawa, 2010). Kinder benötigen Unterstützung, um ihre Mehrsprachigkeit als Ressource und nicht als Belastung zu erleben.
Die Rolle der Kita in der Identitätsbildung
Kitas können wichtige Schutz- und Entwicklungsräume für Kinder mit Migrationshintergrund sein – sofern sie ein Klima von Wertschätzung, Zugehörigkeit und Offenheit schaffen. Eine kultursensible Pädagogik erkennt die Vielfalt familiärer Lebenswelten an, stellt sich selbst kritisch infrage und bietet Kindern Möglichkeiten, ihre kulturelle Herkunft sichtbar und erlebbar zu machen (Frühe Chancen, o. D.-b).
Wichtige Handlungsprinzipien sind unter anderem:
- Die bewusste Einbindung verschiedener Sprachen und kultureller Inhalte in Alltag, Rituale und Materialien
- Eine diskriminierungssensible Haltung des pädagogischen Personals
- Der aktive Dialog mit Eltern über Erziehungsziele, Werte und Erwartungen
- Die Stärkung von Selbstwirksamkeit und Partizipation der Kinder im Alltag
Darüber hinaus sollte den Kindern Raum gegeben werden, ihre individuelle kulturelle Identität zu entdecken, ohne sich entscheiden zu müssen, „wo sie dazugehören“. Die gleichzeitige Zugehörigkeit zu mehreren Kulturen darf nicht als Widerspruch, sondern sollte als natürliche Mehrfachverortung verstanden und positiv begleitet werden (Leyendecker et al., 2014).
Fazit
Kinder mit Flucht- oder Migrationshintergrund befinden sich oft in einem doppelten sozialen Bezugssystem, das Chancen und Herausforderungen gleichermaßen birgt. In der Kita, einem ihrer ersten sozialen Lernorte außerhalb der Familie, entsteht die Möglichkeit, diese kulturellen Erfahrungen positiv zu integrieren und eine stabile, selbstbewusste Identität zu entwickeln. Voraussetzung ist ein reflektierter, sensibler und ressourcenorientierter pädagogischer Umgang mit Vielfalt. Nur so können Kinder lernen, dass sie nicht zwischen zwei Welten wählen müssen – sondern beide zu sich gehören dürfen.
Literaturverzeichnis
Borke, J., Döge, P., & Kärtner, J. (2011). Kulturelle Vielfalt bei Kindern in den ersten drei Lebensjahren. In: IFP Bayern. https://www.ifp.bayern.de
Frühe Chancen. (o. D.-a). Integration und Inklusion – Themenportal. https://www.fruehe-chancen.de/themen/integration-und-inklusion
Frühe Chancen. (o. D.-b). Willkommenskitas – Praxisbeispiele zur kulturellen Vielfalt in Kitas. https://www.fruehe-chancen.de/themen/integration-und-inklusion/integration-und-inklusion-in-der-praxis/willkommenskitas
Leyendecker, B., Agache, A., Burchert, S., & Schachtner, I. (2014). Psychosoziale Versorgung von Kindern mit Migrationshintergrund: Chancen und Herausforderungen für das frühpädagogische System in Deutschland. In: Zeitschrift für Psychologie, 222(2), 91–100.
Miller, A., Watson, S., & Unsworth, J. (2018). The cultural identity of refugee children: Implications for early childhood education. Early Child Development and Care, 188(4), 448–461.
Thomas, A. (2006). Interkulturelle Kompetenz – Grundlagen, Probleme und Konzepte. Göttingen: Hogrefe.
Yagmurlu, B., & Mishina-Matsuzawa, K. (2010). Relations among parenting practices, culture, and children’s theory of mind development. In: Early Child Development and Care, 180(9), 1223–1238.
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