von Anja Klevenow (Psychologie-Studentin) & Antonia Schmoldt (Psychologin M.Sc.)
Zuwanderung im Kita-Alter – eine gesellschaftliche Realität
Zwischen 2015 und 2017 sind allein aus Syrien, dem Irak, Eritrea und Afghanistan rund 103.000 Kinder unter sechs Jahren nach Deutschland zugewandert – also Kinder im klassischen Kita-Alter. Zählt man geflüchtete Kinder aus anderen Herkunftsländern sowie jene hinzu, die seit 2018 nach Deutschland kamen oder hier geboren wurden, ergibt sich eine deutlich höhere Zahl (Bujard, Diehl, Kreyenfeld & Leyendecker, 2020). Diese Entwicklung stellt Kindertageseinrichtungen und ihre pädagogischen Fachkräfte vor besondere Aufgaben.
Was bedeutet es, ein Flüchtling zu sein?
Ein „Flüchtling“ im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention ist eine Person,
„die aus begründeter Furcht vor Verfolgung – etwa wegen ihrer Religion, Nationalität oder politischen Überzeugung – ihr Herkunftsland verlassen hat und dort keinen Schutz mehr finden kann oder will“ (Amnesty International, o. D.).
Kita als Schutz- und Bildungsort
Kinder mit Fluchthintergrund unterliegen wie alle anderen Kinder in Deutschland ab dem vollendeten ersten Lebensjahr einem gesetzlichen Anspruch auf frühkindliche Bildung, Erziehung und Betreuung (Bundesministerium des Innern und für Heimat [BMI], o. D.). Die frühe Aufnahme in eine Kita bietet ihnen zahlreiche Chancen: Die strukturierte Umgebung vermittelt Sicherheit, fördert Orientierung und kann helfen, traumatische Erlebnisse zu verarbeiten. Außerdem eröffnet sie Möglichkeiten zur sozialen Integration, zum Spracherwerb und zum Aufbau stabiler Beziehungen (Bujard et al., 2020).
Die Rolle der Fachkräfte – zwischen Pädagogik und Trauma
Pädagogische Fachkräfte übernehmen in diesem Kontext eine besonders bedeutsame Rolle. Sie müssen nicht nur entwicklungspsychologische und pädagogische Aspekte beachten, sondern auch individuell auf die besondere Lebenssituation der Kinder und ihrer Familien eingehen. Dabei stehen drei Perspektiven im Mittelpunkt: Erstens die personenbezogenen Faktoren wie die individuelle Lebensgeschichte, bisherige Bildungserfahrungen oder Sprachkenntnisse des Kindes. Zweitens die kulturelle Einbindung der Familie – einschließlich Religion, ethnischer Identität und Wertvorstellungen – und drittens die Erfahrungen im Zusammenhang mit Flucht und Migration. Hierzu gehören unter anderem traumatische Erlebnisse, Unsicherheiten im Asylverfahren, belastende Wohnsituationen oder der eingeschränkte Zugang zu Unterstützungsangeboten (Borke, Döge & Kärtner, 2011; Staatsinstitut für Frühpädagogik Bayern [IFP], o. D.).
Konkrete Herausforderungen im Kita-Alltag
In der Praxis ergeben sich daraus konkrete Herausforderungen. So fehlen häufig geeignete Betreuungsplätze, die auf die Bedürfnisse von geflüchteten Familien abgestimmt sind. Hinzu kommt die Sprachbarriere, die nicht nur die Eingewöhnung erschwert, sondern auch die Zusammenarbeit mit den Eltern beeinträchtigen kann. Viele Familien bringen zudem ein tiefes Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen mit – insbesondere, wenn sie aus autoritären Systemen geflohen sind (Amnesty International, o. D.). Für das Kita-Team bedeutet das: Vertrauen muss geduldig aufgebaut werden, Sicherheit muss spürbar vermittelt werden. Dabei ist eine vorurteilsbewusste und kultursensible Haltung unverzichtbar (Frühe Chancen, o. D.-a).
Auch die Eingewöhnungsphase verläuft nicht immer wie gewohnt. Kinder, die Trennungserfahrungen oder Bedrohungssituationen erlebt haben, brauchen mehr Zeit und emotionale Begleitung, um sich auf den Kita-Alltag einzulassen. Gleichzeitig müssen pädagogische Fachkräfte ihre eigenen Belastungsgrenzen kennen und respektieren (IFP, o. D.).
Professionelle Unterstützung und Teamarbeit
Um dem professionell begegnen zu können, ist die kontinuierliche Weiterbildung zentral – etwa durch Fortbildungen im Bereich interkultureller Kompetenz, Traumapädagogik oder Sprachförderung (Frühe Chancen, o. D.-b). Für einen gelingenden Kita-Alltag mit geflüchteten Kindern ist die Zusammenarbeit mit externen Partnern besonders wichtig. Psychologische Fachdienste können bei akuten oder längerfristigen Belastungen unterstützen. Der Aufbau verlässlicher Kooperationsstrukturen – etwa mit dem Jugendamt, Trägern und Hilfsorganisationen – entlastet das Team und schafft Sicherheit. Teambesprechungen oder Teamtage bieten Raum für Austausch, Reflexion und das Ansprechen von Sorgen.
Alltag gestalten trotz Sprachbarrieren
Zugleich sind praktische, kreative Lösungsansätze gefragt, um Sprachbarrieren im Alltag zu überbrücken. Bilder und Fotos können helfen, ebenso wie der Einsatz von Dolmetscher:innen beim Erstgespräch. Künstlerische Aktivitäten – etwa Zeichnen, Musik oder Bewegungsspiele – ermöglichen nonverbale Kommunikation. Auch die Auswahl von Spiel- und Lernmaterialien sollte die Lebenswelt der Kinder widerspiegeln. Mehrsprachige Bücher, vertraute Naturmaterialien oder Bilder aus dem Herkunftsland helfen dabei, Brücken zu bauen (Frühe Chancen, o. D.-a; IFP, o. D.).
Resilienz stärken – an Stärken anknüpfen
Ein besonderer Fokus liegt auf der Förderung kindlicher Resilienz. Indem Fachkräfte an die Stärken der Kinder anknüpfen, ihnen Verantwortung für kleine Aufgaben übertragen und ihnen Raum für aktives Mitgestalten geben, schaffen sie eine Grundlage für Selbstwirksamkeit und Vertrauen. Rituale und klare Tagesstrukturen unterstützen zusätzlich dabei, den Alltag vorhersehbar zu gestalten – ein wichtiger Faktor für Kinder, die viele Unsicherheiten erlebt haben (Borke et al., 2011).
Integration beginnt in der Kita
Das übergeordnete Ziel all dieser Maßnahmen ist die gelingende Integration – nicht nur der Kinder, sondern auch ihrer Familien. Integration bedeutet mehr als Teilnahme; sie ermöglicht Chancengleichheit und Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Leben. Wenn Zugehörigkeit erlebt wird, ist Integration gelungen. Den Grundstein hierfür legt die Kindertagesstätte (BMI, o. D.; Frühe Chancen, o. D.-a).
Literaturverzeichnis
Amnesty International. (o. D.). Grundlagen und Begriffe. https://www.amnesty.ch/de/themen/asyl-und-migration/zahlen-fakten-und-hintergruende/grundlagen-und-begriffe
Borke, J., Döge, P., & Kärtner, J. (2011). Kulturelle Vielfalt bei Kindern in den ersten drei Lebensjahren.
Bujard, M., Diehl, C., Kreyenfeld, M., & Leyendecker, B. (2020). Geflüchtete, Familien und ihre Kinder. Warum der Blick auf die Familien und die Kindertagesbetreuung entscheidend ist. Sozialer Fortschritt.
Bundesministerium des Innern und für Heimat. (o. D.). Integration – Bedeutung. https://www.bmi.bund.de/DE/themen/heimat-integration/integration/integration-bedeutung/integration-bedeutung-node.html
Frühe Chancen. (o. D.-a). Integration und Inklusion in der Praxis: Willkommenskitas. https://www.fruehe-chancen.de/themen/integration-und-inklusion/integration-und-inklusion-in-der-praxis/willkommenskitas
Frühe Chancen. (o. D.-b). Integration und Inklusion – Themenportal. https://www.fruehe-chancen.de/themen/integration-und-inklusion
Staatsinstitut für Frühpädagogik Bayern (IFP). (o. D.). Handreichung: Asylbewerber- und Flüchtlingskinder in Kindertageseinrichtungen in Bayern. https://www.ifp.bayern/files/media/ifp/public/projects/asylbewerber-und-fluechtlingskinder-in-kindertageseinrichtungen-in-bayern/asylhandreichungkita_barrierearm.pdf
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