von Antonia Schmoldt (Psychologin M.Sc. & Autorin)
Einleitung
Kinder entwickeln sich nicht im luftleeren Raum. Ihre emotionalen, sozialen und kognitiven Fähigkeiten entstehen in einem komplexen Zusammenspiel biologischer Voraussetzungen und der Beziehungserfahrungen, die sie im Elternhaus machen. Dabei ist der elterliche Erziehungsstil einer der einflussreichsten Faktoren für die psychische Entwicklung und das Selbstbild eines Kindes.
Während autoritäre, autoritative oder permissive Erziehungsstile in der öffentlichen Diskussion häufig thematisiert werden, bleibt der vernachlässigende Erziehungsstil oft unbeachtet – möglicherweise, weil er schwerer greifbar ist. Anders als bei strenger oder überfürsorglicher Erziehung geht es hier nicht um „zu viel“, sondern um ein eindrückliches Zuwenig. Das Problem: Gerade dieses „Zuwenig“ kann langfristig tiefe emotionale Spuren hinterlassen.
Was genau ist ein vernachlässigender Erziehungsstil?
Der vernachlässigende oder auch indifferent-unbeteiligte Erziehungsstil beschreibt ein Verhalten, bei dem Eltern kaum Interesse an ihrem Kind zeigen, weder emotional noch strukturell eingreifen und keine klaren Regeln oder Orientierung bieten. Die Kinder sind sich selbst überlassen – in der Annahme, dass sie „schon irgendwie klarkommen werden“.
Zentrale Merkmale sind:
Kaum emotionale Zuwendung: Das Kind erlebt keine oder nur selten positive Rückmeldungen, Trost oder echtes Interesse.
Mangelnde Führung: Es gibt kaum Regeln, Erziehungshandeln oder gezielte Anleitung.
Geringe Kommunikation: Eltern tauschen sich selten aktiv mit dem Kind aus.
Abwesenheit im Alltag: Sei es physisch (z. B. durch Arbeitsüberlastung) oder psychisch (z. B. durch depressive Zustände) – das Kind erlebt die Eltern nicht als verlässliche Bezugspersonen.
Einordnung im Vergleich zu anderen Erziehungsstilen
Um den vernachlässigenden Erziehungsstil besser zu verstehen, lohnt sich ein Blick auf das bekannte Modell von Baumrind (1966), das später durch Maccoby und Martin (1983) erweitert wurde. Dieses Modell differenziert Erziehungsstile entlang zweier Dimensionen: Kontrolle (Forderung) und Wärme (Responsivität).
In der Übersicht unten sieht man deutlich, dass nur beim vernachlässigenden Stil beide Dimensionen niedrig ausfallen – eine Konstellation, die besonders risikobehaftet ist:
Während autoritative Erziehung als besonders förderlich gilt (hohe Anforderung bei hoher emotionaler Zuwendung), stellt der vernachlässigende Stil das Gegenstück dar: wenig Unterstützung, wenig Grenzen – aber auch kein echtes Interesse. Das Resultat ist häufig emotionale Desorientierung und ein dauerhaftes Gefühl des „Nicht-wichtig-Seins“.
Wie entsteht vernachlässigende Erziehung?
In vielen Fällen liegt diesem Stil keine bewusste Entscheidung zugrunde. Eltern, die so handeln, sind häufig mit eigenen Belastungen konfrontiert:
Psychische Erkrankungen: z. B. Depressionen, Traumafolgestörungen oder Suchterkrankungen führen zu emotionaler Abwesenheit.
Überforderung im Alltag: alleinerziehend, finanzielle Sorgen, chronische Stressbelastung oder fehlende soziale Netzwerke.
Eigene Erziehungserfahrungen: Wer selbst emotional vernachlässigt wurde, wiederholt oft unbewusst ähnliche Muster.
Unkenntnis oder Hilflosigkeit: Manche Eltern wissen schlicht nicht, wie kindliche Bedürfnisse erkannt oder beantwortet werden.
Diese Ursachen bedeuten nicht, dass die Eltern lieblos oder grundsätzlich unwillig sind. Vielmehr fehlt es ihnen häufig an Ressourcen – innerlich wie äußerlich.
Welche Folgen hat vernachlässigende Erziehung?
Die psychologischen Auswirkungen auf Kinder, die in einem vernachlässigenden Umfeld aufwachsen, sind vielfach belegt. Zahlreiche Studien zeigen:
1. Bindungsstörungen und emotionale Unsicherheit
Kinder entwickeln in frühen Jahren sogenannte Bindungsmuster. Vernachlässigung führt häufig zu einer unsicher-vermeidenden Bindung – sie lernen: Gefühle sind unerwünscht, Nähe ist nicht verlässlich. Im späteren Leben äußert sich dies in Beziehungsschwierigkeiten, emotionaler Rückzug oder dem Wunsch nach völliger Unabhängigkeit – oft als Selbstschutz.
2. Geringes Selbstwertgefühl
Ein Kind, das kaum beachtet wird, entwickelt oft die Überzeugung, nicht wichtig oder liebenswert zu sein. Diese innere Haltung begleitet viele Betroffene bis ins Erwachsenenalter.
3. Soziale Auffälligkeiten
Ohne elterliche Vorbilder für Empathie, Rücksicht und Kommunikation fällt es Kindern schwer, gesunde soziale Beziehungen zu entwickeln. Sie zeigen häufiger auffälliges Verhalten – entweder in Form von Rückzug oder durch aggressives Auftreten.
4. Kognitive Einbußen
Die elterliche Begleitung beim Lernen, Lesen, Fragenstellen und Ausprobieren fehlt häufig. Studien zeigen, dass Kinder aus vernachlässigenden Familien im Schnitt schlechtere schulische Leistungen und ein geringeres Maß an Selbstwirksamkeit aufweisen (Aunola & Nurmi, 2005).
5. Psychische Erkrankungen im Jugend- und Erwachsenenalter
Emotionale Vernachlässigung gehört zu den häufigsten Prädiktoren für Depressionen, Angststörungen, Substanzabhängigkeit und Persönlichkeitsstörungen (Khaleque, 2013).
Was tun? Prävention und Unterstützung
Auch wenn die Auswirkungen tiefgreifend sein können: Eltern können lernen, sensibler zu reagieren, sich Hilfe zu holen und neue Muster aufzubauen. Folgende Angebote wirken nachweislich unterstützend:
Frühpräventive Beratung in Kitas und Familienzentren
Erziehungsberatungsstellen mit Kursen wie Triple P oder STEP
Psychotherapie, insbesondere bei eigener Traumatisierung oder psychischen Erkrankungen
Soziale Netzwerke, z. B. Elterncafés, Patenschaftsmodelle oder digitale Austauschplattformen
Wichtig: Hilfe muss niedrigschwellig, nicht-wertend und zugewandt sein. Nur so gelingt ein Zugang zu Eltern, die sich ohnehin unsicher fühlen.
Fazit
Der vernachlässigende Erziehungsstil ist leise, aber zerstörerisch. Er zeigt sich oft nicht in dramatischen Momenten, sondern im ständigen Fehlen von Beziehung, Resonanz und Halt. Kinder brauchen Grenzen, ja – aber vor allem brauchen sie jemanden, der hinsieht, zuhört und bleibt.
Es reicht nicht, dass Kinder „funktionieren“. Sie sollen sich gesehen fühlen. Wer als Gesellschaft psychische Gesundheit fördern will, muss genau hier ansetzen: beim täglichen Miteinander zwischen Erwachsenen und Kindern – und dem Mut, auch scheinbar „stille“ Familien nicht zu übersehen.
Literaturverzeichnis
Aunola, K., & Nurmi, J.-E. (2005). The role of parenting styles in children’s problem behavior. Child Development, 76(6), 1144–1159. https://doi.org/10.1111/j.1467-8624.2005.00841.x
Baumrind, D. (1966). Effects of Authoritative Parental Control on Child Behavior. Child Development, 37(4), 887–907.
Baumrind, D. (1991). The influence of parenting style on adolescent competence and substance use. The Journal of Early Adolescence, 11(1), 56–95.
Bornstein, M. H. (2012). Cultural Approaches to Parenting. Parenting: Science and Practice, 12(2–3), 212–221.
Khaleque, A. (2013). Perceived parental neglect, and children's psychological adjustment: A meta-analysis of cross-cultural studies. Journal of Child and Family Studies, 22(3), 408–416.
Maccoby, E. E., & Martin, J. A. (1983). Socialization in the context of the family: Parent–child interaction. In E. M. Hetherington (Ed.), Handbook of child psychology: Vol. 4. Socialization, personality, and social development (pp. 1–101). Wiley.
Steinberg, L., Lamborn, S. D., Darling, N., Mounts, N. S., & Dornbusch, S. M. (1994). Over-time changes in adjustment and competence among adolescents from authoritative, authoritarian, indulgent, and neglectful families. Child Development, 65(3), 754–770.