von Antonia Schmoldt (Psychologin M.Sc. & Autorin)
Einleitung
Alkoholabhängigkeit gilt nicht nur als medizinisch-psychologische Erkrankung, sondern als Beziehungs- und Familiendynamik, die das gesamte soziale Gefüge eines Haushaltes betrifft. Besonders dann, wenn ein Elternteil betroffen ist, werden Partnerschaften und die kindliche Entwicklung nachhaltig beeinflusst. Während sich viele Untersuchungen auf die Auswirkungen des Alkoholkonsums selbst konzentrieren, geraten die subtilen psychologischen Folgen der emotionalen Verstrickung des nicht abhängigen Partners – die sogenannte Co-Abhängigkeit – oft in den Hintergrund. Diese Konstellation stellt jedoch ein zentrales Risiko für die emotionale Entwicklung von Kindern dar, insbesondere wenn sie in Rollen gedrängt werden, die ihrer Entwicklungsphase nicht entsprechen.
Zahlreiche Studien haben in den letzten Jahrzehnten belegt, dass Kinder aus alkoholbelasteten Familien nicht nur einem erhöhten Risiko für spätere Suchterkrankungen ausgesetzt sind, sondern auch Bindungsunsicherheiten, Selbstwertprobleme und emotionale Abhängigkeit in eigenen Beziehungen entwickeln (Anda et al., 2002; Lander et al., 2013; Velleman & Orford, 1999). Die Ursache liegt häufig nicht allein im Verhalten des süchtigen Elternteils, sondern ebenso im überfordernden, oft emotional verstrickten Verhalten des nicht süchtigen Partners.
Psychologische Dynamiken: Was ist emotionale Co-Abhängigkeit?
Der Begriff „Co-Abhängigkeit“ wurde ursprünglich im Kontext von Alkoholismus eingeführt und beschreibt das Verhalten von Personen, die sich in ihrer Beziehung zu einem suchtkranken Menschen übermäßig verantwortlich fühlen, dabei ihre eigenen Bedürfnisse vernachlässigen und häufig das schädigende Verhalten indirekt unterstützen (Beattie, 1992). Im familiären Kontext zeigt sich diese Dynamik besonders häufig bei Partnerinnen oder Partnern von alkoholabhängigen Elternteilen, die versuchen, die familiäre Ordnung aufrechtzuerhalten – nicht selten mit massiven psychischen Folgen für sich selbst und die Kinder.
Psychologisch betrachtet handelt es sich bei emotionaler Co-Abhängigkeit um ein Muster, das durch früh erlernte Beziehungserfahrungen geprägt ist. Oft finden sich bei co-abhängigen Personen biografische Hinweise auf eigene emotionale Vernachlässigung, Rollenumkehr in der Kindheit oder mangelnde Selbstwertentwicklung (Woititz, 1983). Diese Menschen fühlen sich in Beziehungen nur dann sicher, wenn sie gebraucht werden. Die Nähe zum suchtkranken Partner wird zur Falle: Einerseits bestimmt die Bindung ihr Selbstbild, andererseits fühlen sie sich für das Wohlergehen des anderen verantwortlich – eine klassische Bindungsstörung im Sinne der Theorie von Bowlby (1969).
Auswirkungen auf die Familiendynamik und auf die Kinder
Kinder wachsen in solchen Konstellationen in einem hoch ambivalenten emotionalen Klima auf. Der alkoholabhängige Elternteil ist in vielen Fällen unzuverlässig, emotional nicht erreichbar oder aggressiv. Der co-abhängige Elternteil wiederum ist durch Überverantwortung, Kontrollzwang oder emotionale Erschöpfung oft ebenfalls nicht verfügbar. Was fehlt, ist ein sicherer, konsistenter Bezugspunkt – ein zentraler Risikofaktor für die Entwicklung von Bindungsunsicherheiten (Keller et al., 2008).
Studien zeigen, dass Kinder in solchen Familien besonders häufig emotionale Auffälligkeiten, Angststörungen, depressive Symptome und psychosomatische Beschwerden entwickeln (Lieb et al., 2002; Schmidt et al., 2020). Zudem zeigen viele Kinder sogenannte Parentifizierungsphänomene, also eine Rollenumkehr, bei der das Kind Fürsorge für die Eltern übernimmt (Jurczyk, 2011). Dies führt zu einer Überforderung, die nicht selten erst im Jugend- oder Erwachsenenalter durch Erschöpfung, emotionale Abhängigkeit oder Beziehungsprobleme sichtbar wird (Wolin et al., 1995).
Die langfristige Bindungsentwicklung dieser Kinder ist vielfach gestört. Sie erleben Nähe als gefährlich, unzuverlässig oder an Bedingungen geknüpft. Die Folge sind häufig entweder vermeidende Beziehungsstile oder – im Gegenteil – eine übermäßige Anpassung, die bis zur Selbstaufgabe gehen kann. Letzteres wird vor allem bei Frauen häufiger beobachtet, die als Erwachsene emotionale Co-Abhängigkeit in eigenen Partnerschaften entwickeln (Straussner & Fewell, 2011; Werner & Smith, 2001).
Intergenerationale Weitergabe und Wiederholungsgefahr
Die psychologischen Folgen dieser frühen Beziehungserfahrungen zeigen sich oft erst Jahre oder Jahrzehnte später. Erwachsene Kinder aus alkoholbelasteten Familien berichten häufig davon, sich selbst in dysfunktionalen Beziehungsmustern wiederzufinden – entweder als Retter:in, die für andere Verantwortung übernimmt, oder als Person, die selbst in emotionale Abhängigkeit gerät (Woititz, 1983). Dies entspricht dem Prinzip der intergenerationalen Weitergabe von Beziehungsmustern, das auch in der Bindungsforschung gut dokumentiert ist (Main & Hesse, 1990).
Der Zusammenhang zwischen elterlicher Suchterkrankung, Co-Abhängigkeit des Partners und psychischen Störungen bei Kindern ist mittlerweile vielfach empirisch belegt. Die National Comorbidity Survey (Kessler et al., 1997) ergab, dass Kinder aus suchtbelasteten Haushalten ein doppelt so hohes Risiko für psychische Erkrankungen tragen. Eine spätere eigene Suchtproblematik wurde insbesondere dann wahrscheinlicher, wenn kein Schutzfaktor wie eine außenstehende Bezugsperson oder therapeutische Hilfe vorhanden war (Rossow et al., 2016; Lander et al., 2013).
Prävention und therapeutische Unterstützung
Eine effektive Prävention muss sowohl die betroffenen Kinder als auch die Eltern adressieren. Während in der Suchthilfe heute häufig Programme für die Suchtkranken selbst etabliert sind, bleibt der co-abhängige Partner oft unbeachtet – ebenso wie die Kinder. Präventionsprogramme wie Trampolin (Klein et al., 2020) oder die Arbeit von NACOA Deutschland setzen hier an, indem sie kindgerechte Informationen, emotionale Entlastung und die Förderung von Selbstwirksamkeit vermitteln.
Zugleich brauchen co-abhängige Elternteile gezielte Unterstützung, um ihre Muster zu erkennen und zu durchbrechen. Die therapeutische Arbeit kann sich an Ansätzen aus der systemischen Therapie, der Schematherapie oder der emotionsfokussierten Paartherapie orientieren. Auch psychoedukative Gruppenangebote für Elternteile mit Co-Abhängigkeitsmustern zeigen in ersten Studien positive Effekte auf die Eltern-Kind-Beziehung (Temcheff et al., 2020).
Fazit
Emotionale Co-Abhängigkeit in alkoholbelasteten Familien ist mehr als eine Randerscheinung. Sie ist ein tragendes Element eines familiären Systems, das sich um das Suchtverhalten organisiert – häufig auf Kosten der gesunden Entwicklung der Kinder. Besonders fatal ist, dass diese Dynamiken oft über Generationen weitergegeben werden, wenn sie nicht erkannt und therapeutisch aufgearbeitet werden.
Kinder aus solchen Konstellationen brauchen stabile Bezugspersonen, geschützte Räume und vor allem das Signal: Du bist nicht verantwortlich für das, was in deiner Familie passiert. Prävention beginnt dort, wo Sprachlosigkeit überwunden und emotionale Bildung ermöglicht wird – in Kitas, Schulen, Beratungsstellen und durch Aufklärung in der Gesellschaft.
Literaturverzeichnis
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