Kinder zwischen Nähe und Chaos
von Lisa Seidel (Psychologin M.Sc. & Autorin)
Einleitung
Kinder, die in suchtbelasteten Familien aufwachsen, leben häufig in einem emotionalen Spannungsfeld. Nähe bedeutet für sie nicht Sicherheit, sondern Kontrollverlust, Unberechenbarkeit oder gar Schuld. In einem Umfeld, in dem ein Elternteil von Alkohol oder anderen Substanzen abhängig ist, geraten Bindung, Verlässlichkeit und Fürsorge aus dem Gleichgewicht – mit tiefgreifenden Auswirkungen auf die emotionale und psychische Entwicklung der Kinder.
Bindung als Fundament der psychischen Entwicklung
Die Bindungstheorie nach Bowlby (1982) gilt als Grundlage für das Verständnis früher emotionaler Beziehungen. Kinder entwickeln in den ersten Lebensjahren ein inneres Arbeitsmodell darüber, ob sie sich auf andere Menschen verlassen können – und ob sie selbst „würdig“ sind, geliebt zu werden. Ainsworth et al. (1978) klassifizierten diese Bindungsmuster in sichere, unsicher-vermeidende, unsicher-ambivalente und desorganisierte Typen. Letztere treten insbesondere bei Kindern auf, deren Bezugspersonen zugleich Quelle von Schutz und Angst sind (Main & Solomon, 1990) – ein Phänomen, das häufig bei Eltern mit Suchterkrankungen zu beobachten ist.
Suchtbedingte Beziehungsdynamiken
Eltern mit Abhängigkeitserkrankungen zeigen oft ein stark schwankendes Erziehungsverhalten. Einerseits können sie in Phasen der Abstinenz liebevoll und präsent sein, andererseits in Krisenphasen abwesend, unzuverlässig oder aggressiv wirken (Kroll, 2004). Studien zeigen, dass diese Inkonsistenz zu einer grundlegenden Verunsicherung des Kindes führt (Suchting & De Robertis, 2020). Substanzgebrauch stört die feinfühlige Responsivität – Kinder erleben sich nicht als sicher gebunden, sondern als emotional auf sich allein gestellt.
Ambivalenz und Parentifizierung
Viele Kinder übernehmen früh Verantwortung für ihre Eltern – sie „regeln“ Konflikte, beruhigen emotionale Ausbrüche oder übernehmen alltägliche Aufgaben. Dieser Rollentausch, auch als Parentifizierung bezeichnet, ist ein häufiges Symptom dysfunktionaler Bindung (Chase, 1999). Earley & Cushway (2002) fanden, dass emotional parentifizierte Kinder ein signifikant höheres Risiko für Angst, Depression und ein gestörtes Selbstbild aufweisen. Nähe wird dabei zur Pflicht – und emotionale Selbstfürsorge zur Seltenheit.
Bindungsunsicherheit und emotionale Folgen
Die Bindungsunsicherheit, die durch diese Familiendynamiken entsteht, hat vielfältige psychologische Auswirkungen. Kinder zeigen häufiger Symptome wie:
emotionale Überregbarkeit
Selbstzweifel und Perfektionismus
soziales Rückzugsverhalten
spätere Schwierigkeiten in Beziehungen
Studien belegen, dass die Wahrscheinlichkeit für Angststörungen, Depressionen oder sogar eigene spätere Suchterkrankungen bei diesen Kindern deutlich erhöht ist (Lieberman et al., 2005; Schmid, Petermann & Fegert, 2013). Das innere Erleben ist oft geprägt von Widersprüchen: der Wunsch nach Nähe kollidiert mit der Angst, verletzt oder enttäuscht zu werden.
Schutzfaktoren und Interventionen
Trotz dieser belastenden Bedingungen gibt es Hoffnung. Bindungsmuster sind formbar – und stabile Bezugspersonen außerhalb des Elternhauses (z. B. Großeltern, Lehrer, Berater:innen) können als sekundäre Bindungsfiguren Schutz bieten (Hölling et al., 2022). Präventive Programme wie SAFE (Papoušek, 2011), Marte Meo oder Gruppenangebote wie Trampolin (Kölch et al., 2014) zielen auf Resilienzstärkung und emotionale Sicherheit.
Fazit
Kinder aus suchtbelasteten Familien sind mit einer widersprüchlichen Realität konfrontiert: Nähe bedeutet für sie nicht Geborgenheit, sondern Unsicherheit. Frühzeitige Unterstützung, Aufklärung und bindungsorientierte Hilfen können verhindern, dass aus dieser Unsicherheit eine lebenslange emotionale Wunde wird. Es ist unsere Aufgabe als Gesellschaft, genau hinzusehen – und Kinder nicht im Chaos allein zu lassen.
Literaturverzeichnis
Ainsworth, M. D. S., Blehar, M. C., Waters, E., & Wall, S. (1978). Patterns of attachment: A psychological study of the strange situation. Hillsdale, NJ: Erlbaum.
Bowlby, J. (1982). Attachment and loss: Vol. 1. Attachment (2nd ed.). New York: Basic Books.
Chase, N. D. (1999). Burdened children: Theory, research, and treatment of parentification. Sage.
Earley, L., & Cushway, D. (2002). The parentified child. Clinical Child Psychology and Psychiatry, 7(2), 163–178. https://doi.org/10.1177/1359104502007002005
Hölling, H., Schlack, R., Petermann, F., Holling, H., & Kölch, M. (2022). Kinder aus suchtbelasteten Familien in Deutschland. Bundesgesundheitsblatt, 65(3), 321–332. https://doi.org/10.1007/s00103-021-03446-1
Kölch, M., Schmid, M., & Fegert, J. M. (2014). Trampolin – ein Gruppenprogramm für Kinder psychisch kranker Eltern. Hogrefe.
Kroll, B. (2004). Living with an elephant: Growing up with parental substance misuse. Child & Family Social Work, 9(2), 129–140. https://doi.org/10.1111/j.1365-2206.2004.00325.x
Lieberman, A. F., Padrón, E., Van Horn, P., & Harris, W. W. (2005). Angels in the nursery: The intergenerational transmission of benevolent parental influences. Infant Mental Health Journal, 26(6), 504–520.
Main, M., & Solomon, J. (1990). Procedures for identifying infants as disorganized/disoriented during the Ainsworth Strange Situation. In M. T. Greenberg, D. Cicchetti & E. M. Cummings (Eds.), Attachment in the preschool years (pp. 121–160). Chicago: University of Chicago Press.
Papoušek, M. (2011). SAFE – Sichere Ausbildung für Eltern. Projektbeschreibung. München: Klinik für Kinder- und Jugendpsychosomatik.
Schmid, M., Petermann, F., & Fegert, J. M. (2013). Kinder psychisch kranker Eltern: Entwicklungsrisiken und Fördermöglichkeiten. Kindheit und Entwicklung, 22(3), 145–152. https://doi.org/10.1026/0942-5403/a000110
Suchting, R., & De Robertis, M. (2020). Parenting and substance use: Neurobiological and attachment-related mechanisms. Journal of Substance Use, 25(3), 224–231. https://doi.org/10.1080/14659891.2019.1695602
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