Bedürfnisorientierte Erziehung: Was sie wirklich bedeutet und warum auch Eltern zählen

Bedürfnisorientierte Erziehung: Was sie wirklich bedeutet und warum auch Eltern zählen

von Lisa Seidel (Psychologin M.Sc.)

Ein Kind schreit. Es möchte nicht ins Bett, will noch eine Geschichte hören oder einfach nur bleiben, wo es gerade ist, nah bei Mama oder Papa. Viele Eltern geraten in solchen Momenten ins Zweifeln: Soll ich nachgeben? Muss ich konsequent sein? Bin ich noch bedürfnisorientiert, wenn ich jetzt „Nein“ sage?

Bedürfnisorientierte Erziehung ist in aller Munde. Doch kaum ein Erziehungskonzept wird so häufig fehlinterpretiert, romantisiert oder im Alltag frustrierend umgesetzt. Dieser Artikel soll Klarheit schaffen: Was bedeutet Bedürfnisorientierung tatsächlich? Welche psychologischen Konzepte stecken dahinter? Und warum ist es wichtig, dass auch Ihre eigenen Bedürfnisse als Mutter oder Vater dabei nicht zu kurz kommen?

Was Bedürfnisorientierung nicht ist

Bedürfnisorientierung bedeutet nicht, dass Kinder immer bekommen, was sie wollen. Es heißt auch nicht, dass Eltern sich selbst aufgeben sollen, um rund um die Uhr verfügbar zu sein. Vielmehr geht es um ein achtsames Miteinander, in dem die Bedürfnisse aller Familienmitglieder gesehen und berücksichtigt werden,  auch wenn nicht immer alle gleichzeitig erfüllt werden können (Gopnik, 2009; Juul, 2005).

Wünsche sind nicht gleich Bedürfnisse

Ein häufiger Denkfehler besteht darin, dass kindliche Wünsche automatisch als Bedürfnisse verstanden werden. Psychologisch betrachtet unterscheiden sich Wünsche, etwa nach Süßigkeiten, Fernsehen oder einem bestimmten Spielzeug deutlich von Grundbedürfnissen wie Sicherheit, Bindung, Autonomie oder Kompetenzerleben (Deci & Ryan, 2000; Brisch, 2014). Ein „Ich will nicht schlafen“ kann etwa für das tieferliegende Bedürfnis nach Verbindung stehen.

Wirklich bedürfnisorientiert zu erziehen heißt also, feinfühlig zu erkennen, was das Kind wirklich braucht und nicht, jedem Impuls nachzugeben (Ainsworth et al., 1978).

Warum auch Ihre Bedürfnisse zählen

Viele Eltern glauben, dass sie ihre eigenen Bedürfnisse dauerhaft zurückstellen müssen. Doch das Gegenteil ist der Fall: Nur wer gut für sich sorgt, kann auch gut für andere sorgen. Psychologisch spricht man hier von Selbstregulation und Co-Regulation (Fonagy et al., 2002). Ein Kind braucht nicht nur emotionale Begleitung, sondern auch ein Gegenüber, das innerlich stabil ist. Eltern, die chronisch erschöpft, überreizt oder emotional abwesend sind, können die besten Prinzipien nicht mehr leben, selbst wenn sie es wollen.

Bindung und Sicherheit entstehen nicht durch Perfektion, sondern durch Präsenz

Kinder brauchen keine perfekten Eltern, sondern emotional präsente. Die Bindungstheorie zeigt, dass eine sichere Bindung entsteht, wenn Eltern verlässlich, sensibel und tröstend reagieren (Bowlby, 1982; Grossmann et al., 2006). Dabei reichen schon etwa 30 Prozent gelungene Interaktionen aus,  solange Eltern bereit sind, Brüche zu reparieren (Tronick, 2007).

Bedürfnisorientierung ist keine Methode, sondern eine Haltung

Sie basiert auf Gleichwürdigkeit (Juul, 2005), nicht auf Gleichmacherei. Eltern bleiben die verantwortlichen Führungspersonen. Kinder brauchen keine Freunde, sondern liebevolle Erwachsene mit Rückgrat. Grenzen sind keine Grausamkeit, sondern Sicherheit (Neufeld & Maté, 2008).

Alltagstaugliche Impulse für Eltern

Fragen Sie sich: Was brauche ich gerade? Was braucht mein Kind? Was ist jetzt möglich?

Beobachten Sie kindliches Verhalten als Kommunikation, nicht als Problem.

Lernen Sie, zwischen Wunsch und Bedürfnis zu unterscheiden.

Sagen Sie klar „Nein“, wenn Sie innerlich „Nein“ meinen – aber bleiben Sie dabei liebevoll.

Planen Sie auch Zeiten für Ihre eigene Erholung und mentale Gesundheit ein.

Fazit

Bedürfnisorientierung bedeutet nicht, sich selbst zu verlieren, sondern Beziehung zu gestalten. Sie setzt psychologisches Wissen voraus, aber vor allem auch: Mut zur Reflexion, Klarheit und echte Verbindung. Kinder brauchen keine permanente Erfüllung, sondern Erwachsene, die mit sich selbst in Kontakt sind. Wer mit sich selbst achtsam umgeht, lebt Bedürfnisorientierung am glaubwürdigsten vor.

Literaturverzeichnis 

Ainsworth, M. D. S., Blehar, M. C., Waters, E., & Wall, S. (1978). Patterns of Attachment. Erlbaum.

Bowlby, J. (1982). Attachment and Loss. Basic Books. Brisch, K. H. (2014). Bindungsstörungen. Klett-Cotta.

Deci, E. L., & Ryan, R. M. (2000). The "what" and "why" of goal pursuits. Psychological Inquiry, 11(4), 227–268.

Fonagy, P., Gergely, G., Jurist, E., & Target, M. (2002). Affect Regulation, Mentalization, and the Development of the Self. Other Press.

Gopnik, A. (2009). The Philosophical Baby. Picador.

Grossmann, K., Grossmann, K. E., & Waters, E. (2006). Attachment from Infancy to Adulthood. Guilford Press.

Juul, J. (2005). Dein kompetentes Kind. Beltz.

Neufeld, G., & Maté, G. (2008). Unsere Kinder brauchen uns. Ullstein. Schmid, T. (2017). Erziehen ohne auszurasten. Kösel.

Schore, A. N. (2012). The Science of the Art of Psychotherapy. Norton.

Tronick, E. (2007). The Neurobehavioral and Social-Emotional Development of Infants and Children. Norton.

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