„Alles ist zu viel!“ - Wie Kinder Reizüberflutung erleben! - MoonWalker Verlag

„Alles ist zu viel!“ - Wie Kinder Reizüberflutung erleben!

von Antonia Schmoldt (Psychologin M.Sc.)

Ständige Geräusche, blinkende Bildschirme, volle Stundenpläne und kaum Pausen: Unsere Welt ist laut, schnell und oft zu viel – vor allem für Kinder. Sie nehmen ihre Umgebung intensiver wahr, sind emotional offener und können Reize schwerer filtern als Erwachsene. Kein Wunder also, dass immer mehr Kinder unter Reizüberflutung leiden. Doch was bedeutet das genau? Und wie können Eltern, Pädagog:innen und Bezugspersonen helfen?

Was ist Reizüberflutung?

Reizüberflutung bezeichnet einen Zustand, in dem das zentrale Nervensystem mehr Reize aufnimmt, als es verarbeiten kann. Dazu zählen visuelle Eindrücke (z. B. grelle Farben, schnelle Bildwechsel), akustische Reize (z. B. Lärm, Stimmengewirr), aber auch emotionale oder soziale Anforderungen (z. B. Konflikte, Gruppendruck). Kinder sind besonders empfänglich, weil ihre neuronale Filterfunktion – also die Fähigkeit, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden – noch in der Entwicklung ist (Kühn, 2018).

Typische Anzeichen:

  • Gereiztheit, Wutausbrüche
  • Rückzug oder Überdrehtheit
  • Konzentrationsschwierigkeiten
  • Schlafprobleme
  • körperliche Symptome wie Bauch- oder Kopfschmerzen

Reizüberflutung ist keine Krankheit, aber sie kann die Entwicklung beeinträchtigen, wenn sie chronisch wird.

Woher kommt die Reizflut im Alltag?

Kinder erleben heute mehr Reize als frühere Generationen – dauerhaft, vielschichtig und oft unkontrolliert.

1. Digitale Medien

Smartphones, Tablets, Fernseher – oft begleiten sie Kinder durch den ganzen Tag. Viele Studien zeigen: Schnelle Bildwechsel, Lautstärke, Push-Nachrichten und Reizfülle können das kindliche Gehirn überfordern (Spitzer, 2020; Paulus & Ohler, 2022).
Kinder unter 6 Jahren sind besonders empfindlich – ihr Gehirn ist auf analoge Reize, Bewegung und echten Kontakt ausgelegt.

2. Lärm & Großstadtstress

Lärm in Kitas, Verkehr, offene Schulräume – all das führt zu einer ständigen Grundanspannung. Die WHO (2018) warnte bereits, dass Lärm ein unterschätztes Gesundheitsrisiko für Kinder darstellt.

3. Voller Alltag & Termindruck

Viele Kinder erleben einen durchgetakteten Alltag: Kita, Schule, Nachhilfe, Sport, Musik, Medien. Pausen oder freie Spielzeit fehlen – die Reizverarbeitung bleibt auf der Strecke.
Das zeigt sich besonders bei Kindern mit hoher Sensibilität (Aron, 2019) oder AD(H)S-Symptomatik.

4. Emotionale & soziale Überforderung

Soziale Medien, Gruppendruck, ständige Vergleiche und „immer funktionieren“ – selbst Grundschulkinder sind heute emotionalen Reizen ausgesetzt, die sie oft noch nicht einordnen können.

Warum Reizüberflutung für Kinder gefährlich sein kann

Wenn Kinder ständig überreizt sind, kann das langfristige Folgen für die psychische und körperliche Entwicklung haben.

  • Stressreaktionen werden zum Dauerzustand – das Gehirn ist im „Alarmmodus“.
  • Aufmerksamkeitsprobleme, Unruhe und Impulsivität können sich verstärken (Kiefer & Preuß, 2021).
  • Das emotionale Gleichgewicht gerät aus dem Lot – Kinder reagieren empfindlicher oder entwickeln Ängste.
  • Lernprozesse werden blockiert – denn Lernen braucht Ruhe, Sicherheit und innere Stabilität.
  • Chronische Überforderung kann zu psychosomatischen Beschwerden oder depressiven Verstimmungen führen (DGKJP, 2023).

Besonders gefährdet sind hochsensible Kinder, Kinder mit Entwicklungsverzögerungen, psychischen Vorerkrankungen oder aus belasteten Familien.

Was hilft? – 6 Impulse für den Alltag

1. Medienzeiten bewusst begrenzen

Statt pauschalem Verbot hilft ein bewusstes Familien-Medienkonzept: feste Zeiten, keine Bildschirmnutzung vor dem Schlafen, altersgerechte Inhalte. Die Ständige Medienkommission (2023) empfiehlt: max. 30 Minuten täglich für 3–6-Jährige, max. 1 Stunde für 6–10-Jährige.

2. Ruheinseln schaffen – und verteidigen

Freie Spielzeit, Waldspaziergänge, Malen, Musik hören oder einfach nichts tun – Kinder brauchen „leere Räume“, um Reize zu verarbeiten. Besonders nach Schule oder Kita ist eine Phase der Entspannung wichtig.

3. Rituale & Struktur geben Sicherheit

Feste Abläufe (z. B. Abendritual, gleiche Aufstehzeit) helfen dem Gehirn, sich zu orientieren und zur Ruhe zu kommen. Gerade überreizte Kinder profitieren von Vorhersehbarkeit.

4. Bewusstes Entschleunigen im Familienalltag

Nicht jeder Nachmittag muss „gefüllt“ sein. Entschleunigung bedeutet, Qualität statt Quantität zu wählen. Weniger ist oft mehr – auch bei Freizeitangeboten.

5. Sinneswahrnehmung stärken statt Reize erhöhen

Statt „schnell, laut, bunt“ sind Erfahrungen gefragt, die Sinne fokussieren statt bombardieren: barfuß gehen, mit Naturmaterialien spielen, leise Musik, Düfte, ruhige Farben.

6. Über Reize sprechen lernen

Gerade für Schulkinder ist es wichtig, Worte für ihr inneres Erleben zu finden. Fragen wie: „Was tut dir gerade nicht gut?“ oder „Was brauchst du jetzt?“ können helfen, Selbstwahrnehmung und Selbstregulation zu fördern.

Fazit

Reizüberflutung bei Kindern ist kein modisches Schlagwort – sie ist eine reale, wachsende Herausforderung unserer Zeit. Kinder brauchen heute mehr denn je Pausen, Rückzugsorte und empathische Erwachsene, die sie begleiten. Denn das kindliche Gehirn wächst am besten in einem Klima aus Sicherheit, Klarheit und Zuwendung. Wer achtsam mit Reizen umgeht, gibt Kindern das, was sie brauchen: Raum zum Wachsen – ohne Dauerstress.

Buchtipp

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Literaturverzeichnis

Aron, E. N. (2019). Das hochsensible Kind: Wie Sie auf die besonderen Schwächen und Bedürfnisse Ihres Kindes eingehen können. Heyne Verlag.

Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie (DGKJP). (2023). Psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen – Versorgungslage in Deutschland. https://www.dgkjp.de

Kiefer, M., & Preuß, S. (2021). Neurobiologie des Lernens und der Entwicklung. Springer.

Kühn, S. (2018). Wie Kinder denken: Eine Einführung in die Entwicklungspsychologie. Beltz Verlag.

Paulus, M., & Ohler, P. (2022). Kinder und digitale Medien: Chancen und Risiken im Überblick. In B. Krämer & M. Rinawi (Hrsg.), Kindheit und Medien im digitalen Zeitalter (S. 45–63). Nomos.

Spitzer, M. (2020). Digitale Demenz: Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen. Droemer Knaur.

Ständige Medienkommission. (2023). Empfehlungen zur Bildschirmzeit bei Kindern. www.medienrat.de

World Health Organization. (2018). Environmental noise guidelines for the European Region. WHO Regional Office for Europe.

Bildquellen: istock.de

 

 

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