von Antonia Schmoldt
Einleitung
Alkoholkonsum ist in Deutschland tief in der Alltagskultur verankert. Gleichzeitig stellt Alkoholmissbrauch eine der häufigsten substanzgebundenen Abhängigkeitserkrankungen dar – mit erheblichen Auswirkungen auf die individuelle psychische Gesundheit und das gesellschaftliche System. Die Herausforderung liegt nicht nur in der Behandlung manifestierter Abhängigkeit, sondern auch in der rechtzeitigen Identifikation und Prävention riskanter Konsummuster. Psychologische Fachkräfte spielen in diesem Prozess eine zentrale Rolle.
Epidemiologische Daten
Laut der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (2024) konsumieren etwa 6,7 Millionen Menschen in Deutschland Alkohol in gesundheitlich riskanter Weise, etwa 1,6 Millionen gelten als alkoholabhängig. Besonders bedenklich ist, dass 9,4 Millionen Menschen einen riskanten oder schädlichen Alkoholkonsum aufweisen, ohne sich selbst als suchtgefährdet wahrzunehmen (DHS, 2024). Der Alkoholkonsum ist damit nicht nur eine individuelle Belastung, sondern ein gesamtgesellschaftliches Gesundheitsproblem.
Die direkten und indirekten Kosten durch alkoholbedingte Krankheiten, Arbeitsausfälle, Verkehrsunfälle und Frühverrentung betragen laut Schätzungen mehr als 57 Milliarden Euro jährlich (Kraus et al., 2023).
Psychologische Mechanismen der Alkoholabhängigkeit
Aus psychologischer Sicht wirkt Alkohol vor allem als emotionsregulierende Substanz: Viele Konsumierende greifen auf Alkohol zurück, um akuten Stress, Ängste, depressive Verstimmungen oder soziale Unsicherheit kurzfristig zu dämpfen (Berking & Wupperman, 2012). Dabei steht die negative Verstärkung im Vordergrund – nicht die Euphorie, sondern die Linderung unangenehmer Gefühlszustände wird zum Antrieb des Konsums.
Bei regelmäßigem Konsum entwickelt sich eine Toleranz, d. h. die Dosis muss gesteigert werden, um denselben Effekt zu erzielen. Entzugserscheinungen – körperlich wie psychisch – können bereits bei einem „funktionalen“ Konsummuster auftreten und fördern den Übergang in die Abhängigkeit.
Gesellschaftliche Normalisierung und Präventionsproblematik
Alkohol ist in Deutschland allgegenwärtig und kulturell verharmlost. Begriffe wie „Feierabendbier“, „ein Gläschen zur Entspannung“ oder „gesellschaftlicher Anlass“ verschleiern die psychische Funktion des Konsums. Diese Normalisierung erschwert eine frühzeitige Problematisierung – sowohl im privaten als auch im beruflichen und therapeutischen Umfeld (Bühringer et al., 2021).
In vielen Fällen beginnt eine alkoholbezogene Störung nicht mit einem exzessiven, sondern mit einem alltäglichen Konsumverhalten, das zunächst nicht auffällt oder sogar sozial verstärkt wird. Besonders gefährdet sind Berufsgruppen mit hoher emotionaler Belastung, Pflegeverantwortung oder chronischem Stress (Rehm et al., 2017).
Kinder im Fokus: Prävention durch Aufklärung im Alltag
Besonders belastend wirkt sich eine Alkoholsucht auf das familiäre System und insbesondere auf Kinder alkoholabhängiger Elternteile aus. Studien zeigen, dass Kinder aus suchtbelasteten Familien ein deutlich erhöhtes Risiko für eigene psychische Erkrankungen und spätere Suchterkrankungen tragen (Schmid et al., 2014). Gerade deshalb ist die frühe psychologische und pädagogische Aufklärung ein zentrales Instrument der Prävention.
Ein innovativer Beitrag zu diesem sensiblen Thema kommt aus der psychologischen Kinderbuchliteratur: Das Vorlesebuch „Papa ohne Grummelbären und Kater“ von Senia H. Salah (Dipl.-Sozialarbeiterin, M. Sc. Psychologie / Psychotherapie der Familie) richtet sich an Kinder und Eltern, die mit dem Thema Alkoholsucht in der Familie konfrontiert sind – sei es offen oder unausgesprochen. In einfühlsamen, kindgerechten Bildern gelingt es Salah, komplexe emotionale und familiäre Dynamiken sichtbar zu machen – ohne zu stigmatisieren.
Mit ihrer jahrzehntelangen Erfahrung in der Arbeit mit Familien in belasteten Lebenslagen verfolgt die Autorin ein klares Ziel: Kinder nicht allein zu lassen – und Fachkräfte mit Materialien zu unterstützen, die echte Gespräche ermöglichen.
Das Buch ist ein Beispiel dafür, wie psychologische Prävention auf Augenhöhe gelingen kann – nah am Alltag, fachlich fundiert und mit dem Mut zur sensiblen Ansprache.
Relevanz für psychologische Fachkräfte
Für Psychologinnen und Psychologen – ob in der Klinik, Praxis oder Beratung – ergeben sich daraus mehrere Handlungsfelder:
Frühintervention und Screening in Beratungsgesprächen, auch bei nicht suchtbezogenen Anlässen.
Psychoedukation zur emotionalen Funktion von Substanzen – insbesondere bei Klient:innen mit internalisierenden Störungsbildern.
Arbeit mit Kindern aus suchtbelasteten Familien, z. B. über altersgerechte Medien und Geschichten.
Systemisches Denken: Hinter jeder Abhängigkeit stehen häufig soziale, emotionale und strukturelle Dynamiken, die im Beratungs- oder Therapiekontext reflektiert werden müssen.
Fazit
Alkoholsucht ist keine Randerscheinung, sondern ein unterschätztes Kernproblem öffentlicher Gesundheit. Die Enttabuisierung des Konsums, frühzeitige psychologische Aufklärung – auch in der Arbeit mit Kindern – und fachlich fundierte Präventionsmedien wie „Papa ohne Grummelbären und Kater“ sind entscheidende Schritte, um betroffene Familien zu entlasten und Folgegenerationen zu stärken.
Literaturverzeichnis
Berking, M., & Wupperman, P. (2012). Emotion regulation and mental health: Current issues and future directions. International Journal of Psychology, 47(1), 1–9. https://doi.org/10.1080/00207594.2011.646376
Bühringer, G., Blank, A., & Kraus, L. (2021). Suchtbericht Deutschland 2021: Trends und Entwicklungen. München: IFT Institut für Therapieforschung.
Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen. (2024). Jahrbuch Sucht 2024. Lengerich: Pabst Science Publishers. https://www.dhs.de
Kraus, L., Seitz, N.-N., Piontek, D., & Gomes de Matos, E. (2023). Alkohol: Konsum, Risiken und Kosten. In DHS (Hrsg.), Jahrbuch Sucht 2023 (S. 25–42). Lengerich: Pabst.
Rehm, J., Shield, K. D., Gmel, G., Rehm, M. X., & Frick, U. (2017). Modelling the impact of alcohol dependence on mortality burden and the effect of available treatment interventions in the European Union. European Neuropsychopharmacology, 27(7), 643–652. https://doi.org/10.1016/j.euroneuro.2017.03.007
Schmid, B., Hohm, E., Blomeyer, D., Zimmermann, U. S., & Laucht, M. (2014). Children of Alcoholics: Increased Risk for Psychiatric Disorders in Adolescence. Journal of Child Psychology and Psychiatry, 45(3), 468–475.
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